Kürzere Tage
Leonie, die ihre Arbeit liebt, nie zugeben, daß sie davon geplagt wird. Aber jetzt, mit Feli auf dem Arm, wäre die Antwort eindeutig: Ja, jeden Tag. Jeden Tag, wenn sie die beiden Mädchen hinter den bunt beklebten Scheiben des Kindergartens winken sieht. Jeden Tag, wenn Lisa nölt: »Ich will aber noch fertigspielen, nie bin ich zu Hause.« Jeden Tag, wenn Feli hustet und sie trotzdem eingepackt und zum Kindergarten gefahren wird, wenn sie noch schlafen und sie sie wach zupfen muß, zärtlich zwar, aber mit Hektik in den Fingerspitzen. Gibt es Stau? Wann fängt die Sitzung an? Von anderen Eltern hört sie, wie die Nachmittage verbracht werden können, und vergleicht deren Wilhelma- und Waldspielplatzbesuche mit ihren hektischen Ausflügen zu Supermarkt und Reinigung.
Als größten Verrat empfindet sie das Gefühl der Erleichterung, wenn sie im Büro ankommt und hinter ihrem Schreibtisch Platznimmt. Leonie arbeitet in der Kommunikationsabteilung einer mittelständischen Bank. Sie kümmert sich um die Mitarbeiterzeitung und den Newsletter. Sie hat nie gern studiert. Die Welt außerhalb der Uni, in der Dinge schnell vollendet und neue begonnen wurden, in der man mit Geld und nicht mit Ehre und guten Worten bezahlt wurde, war ihr von Anfang an sympathisch. Sie genießt Telefonate und Meetings, oft nur aus dem Grund, daß sie dort die Kinder ausblenden kann. Sie liebt es, zwischendurch auf die schwarzgekachelte Toilette der Abteilung zu gehen, in aller Ruhe zu pinkeln und die Lippen nachzuziehen, ohne daß vor der Tür gejammert oder dagegengetreten wird. Daß man sie auch hier, seit sie die Kinder hat, mit strengerem Maßstab mißt, Zerstreutheiten und Mißerfolge stärker ankreidet als vorher und ihr mehr Unverständnis als Unterstützung entgegenbringt, will sie nicht wirklich wahrhaben und arbeitet korrekter als zuvor. »Wir berufstätigen Mütter haben doch immer die Arschkarte, wir müssen doppelt so gut sein wie die anderen, um weniger zu erreichen«, hatte eine angetrunkene Kollegin auf dem Betriebsausflug schwadroniert. Leonie, damals nur mit Simon an ihrer Seite, hatte sich angewidert abgewandt. Heute würde sie laut einstimmen.
Stavros löscht das Feuer mit einem Eimer Sand und rückt den Dolch zurecht, dessen Griff mitten auf seinem Bauch sitzt wie der Hebel eines Aufziehspielzeugs. Die Spitze, halloweengerecht von Kunstblut gerötet, tritt in der Nierengegend wieder aus. Seine Beine stecken in Lederhosen, narbig vor Alter wie die Haut eines selbsterlegten Tiers. Er ist mindestens zehn Jahre jünger als Leonie und könnte gut in einer Kreuzberger WG wohnen. Leonie weiß, daß er Selbstgedrehte raucht, wenn die Kids nicht hinschauen. Stavros ist natürlich tätowiert, seine muskulösen Oberarme und Schultern hat sie den Sommer lang beim Ballspiel mit den Kindern betrachten können. Bestimmt ist er gut im Bett. Stavros formt die Hände zu einem Trichter und brüllt: »Alle, diebei der Gruselgeschichte zuhören wollen, sollet jetzt reinkommen und sich leis vor der Tür aufstellen. In der Garderobe Schuh ausziehen und kein Gebubel und kein Geschrei!« Die älteren Kinder stürzen ins Haus, Turnschuhe und Stiefel werden von den Füßen gezerrt, »Halt’s Maul, der Stavros hat doch gesagt . . .« Vor der verschlossenen, mit Spinnen und Gespenstern beklebten Tür zum Aufenthaltsraum staut sich die Masse der Monster. Lisa ist zurückgeblieben, sie tritt von einem Fuß auf den anderen. »Mama, kommst du mit rein?« Leonie plaziert Felis Windelpo auf ihrer Hüfte. »Ich kann mit der Feli nicht da rein, Süße. Ich bleibe vor der Tür, und wenn du dich fürchtest, kommst du raus.« Lisa kaut auf dem Zeigefinger, eine Angewohnheit, die Leonie haßt, aber in Anbetracht der Umstände durchgehen läßt.
Der Raum ist vollständig verdunkelt. Von der Decke baumeln Untiere aus Papier. Ein paar Kerzen flackern. Ein älteres Mädchen versetzt seinem drängelnden Nebenmann einen Schlag: »Ey, laß die Kleine vorbei, die kann sonst nix sehen.« »Genau, die Kleinsten ganz nach vorne!« Und Lisa wird hochgehoben wie eine Puppe und durch die Menge auf einen Platz ganz vorne im Kreis durchgereicht. Sie ist viel zu erstaunt und aufgeregt, um sich zu äußern. Ihre Augen sind riesig im Schummerlicht. Es riecht nach Kaugummi, Weichspüler und Schweiß. Stavros tritt als letzter ein, er zieht die Tür zu bis auf einen Spalt. Leonie versucht, Felicia abzulenken, die weiter kräht und auf die Schwester zustreben will. Der Erzieher
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