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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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schien alles leichtzufallen. Er liebte seine Arbeit und war gnadenlos optimistisch, was seine berufliche Zukunft anging: »Wenn die Promotion fertig ist, habilitier ich mich noch schnell. Das ist doch geil, oder? An der Uni ist es einfach entspannter als in der Wirtschaft. Und nebenbei kann ich trotzdem noch rumtüfteln. Mein Doktorvater, der Veylland, hat sein eigenes Ingenieurbüro, da fällt immer ein Projekt für mich ab.« Diese Einstellung war Judith so fremd, daß sie Klaus’ Aussagen nur als schwarzen Humor auffaßte.
    Klaus hatte Judith seit ihrer ersten Begegnung im Treppenhaus auf Schritt und Tritt bedrängt: mit Einladungen zu seinen Parties, davon gab es viele, denn er spielte in einer Band und hatte einen großen Freundeskreis. Fast täglich klingelte er, um sie zu fragen, ob er etwas aus dem Supermarkt mitbringen solle, vom Döner- Laden, aus der Landesbibliothek, ob Judith eine Freikarte für ein Jazzkonzert wolle oder Lust habe auf einen Wochenendausflug in die Vogesen. Judith wollte weder Döner noch Vollmilch. Nur auf den Parties war sie ab und an erschienen, sehr spät, wenn sie sicher war, daß Sören nicht mehr anrufen würde. Dann stand sie am Rande des verrauchten Raums, die silbern geschminkten Lider halb geschlossen, in der Hand ein Glas, wippte im Rhythmus mit den Hüften und sah durch die Leute hindurch, bis der Gastgeber kam und sie zu einem Gespräch nötigte. Er brachte ihr eine Auswahl von Eßbarem aus der Küche, Fladenbrot, Schafskäse, Tsatsiki, manchmal war auch ein Nudelsalat mit Curry dabei. Er beobachtete sie beim Scharren mit der Gabel, beim Herumpicken und dabei, wie sie schließlich ihre Kippe in den kaum berührten Speisen ausdrückte und den Teller im Bücherregalstehenließ. »Quälst du dich immer noch mit diesem Dix herum? Kein Wunder, daß du so traurig aussiehst. Das Zeug ist deprimierend.« Klaus trank Bier und Tequila, er schlug seine Zähne in das Zitronenstück und schleuderte es anschließend auf den Boden. »Bestimmt magst du in Wirklichkeit lieber Blumenbilder, darfst es nur nicht zugeben, das wäre ja uncool. Deshalb hältst du es aus. Genauso wie du diesen Sören aushältst. Laß das Arschloch doch ziehen! Es gibt andere, die dich bestimmt glücklicher machen.« Seine sonst so wohlartikulierende Stimme war nicht mehr ganz sicher. Er verschliff die Wörter und wurde laut. Judith lächelte nur und schüttelte den Kopf. Einmal hatte sie ihm hinterher beim Aufräumen geholfen, weil sie sowieso nicht schlafen konnte. Vor dem mit fettiger Abwaschbrühe gefüllten Spülbecken knutschte sie mit ihm, um sich dann erschrocken abzuwenden von der Seligkeit in seinem Gesicht. Als Klaus eine Zeitlang mit Annett, einer kleinen rundlichen Musiktherapeutin mit weißblond gefärbtem Stoppelhaar herumzog, spürte sie überraschend Eifersucht, scharf und frisch wie der Schmerz einer offenen Wunde. Doch wenn Sören dann wieder auftauchte, brachte sie es fertig, grußlos im Treppenhaus an Klaus vorbeizugehen, nicht aus Freude am Quälen, sondern aus purer Nachlässigkeit. Er mußte sie oft gesehen haben, wenn sie gegen Morgen nach Hause kam, in ihren dünnen Lurexkleidern, Lederhosen, hohen Stiefeln. Wenn Sören mit ungenannten Kommilitoninnen auf Klausuren lernte und in Tübingen blieb, brachte sie auch andere Männer mit, schlief mit ihnen auf der mit Zigarettenlöchern übersäten Ausziehcouch und schmiß sie raus, wenn sie in Ruhe ihren Kaffee trinken und sich aus der blauen Dose bedienen wollte. Klaus war ausgezogen und hatte ihr seine neue Adresse in den Briefkasten geworfen: Constantinstr. 153, die Telefonnummer, darunter ein neongelb angeleuchtetes ›Melde dich!‹ Sie hatte nie angerufen.
    »Ich will mich ja net einmische, Freilein, aber das Hocka ufdem kalte Stoi, des isch ganz schlecht für uns Fraua. Zu wem wellet Sie denn?« Frau Posselts herzförmiges Gesicht, schon damals verziert mit der auffälligen Brille und einem bunten Make-up, beugte sich zu ihr herunter. Judith hob den Kopf von Orplids besonntem Strand und zwinkerte. Ein breites Lächeln zog ihre Mundwinkel ganz von selbst auseinander. Die Quäkstimme der Alten, die Nerzschwänze, die schlangenartig und glänzend ihre Schultern umtanzten, das dickliche Clownsgesicht, das alles erheiterte sie über die Maßen, und am liebsten hätte sie laut herausgewiehert. Nur jahrelangem Training hatte sie es zu verdanken, daß sie auch unter hohen Dosen die Fassung bewahrte. In Baumeisters Sprechstunden hatte sie immer

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