Kürzere Tage
kauert sich in der Mitte des Kreises auf den Boden, faltet die Beine zum Schneidersitz zusammen wie ein großes Insekt. Seine Stimme dröhnt durch den Raum, in dem 40 Kinder hastig atmen. Die Geschichte beginnt. Ein König und eine Königin wünschen sich ein Kind, so sehr, daß es ihnen egal ist, von wem: »Selbst wenn’s vom Teufel wär!« Die Prinzessin wird geboren. Am Abend ihres 15. Geburtstages geht sie zu ihrem Vater: »Vater, morgen muß ich sterben.« Zwölf Nächte lang soll anihrem Totenbett Wache gehalten werden. Leonie setzt Felicia auf den Boden, wirft einen letzten Blick auf Lisa, die im Schein des rhythmisch aufflackernden Rotlichts sitzt. Ihr Gesicht zeigt den gleichen weggetretenen Ausdruck wie vor dem Fernseher. Die anderen Kinder klatschen im Takt die Schläge der Turmuhr, die die Geisterstunde einläutet, dann schließt Leonie die Tür.
Judith
»Schlamper, sei gut, zieh net so!« Judith hört durch die halb geöffnete Wohnungstür das ungeduldige Fiepen des Hundes und die klagende Stimme ihrer Nachbarin. Kilian müht sich vor dem Flurspiegel mit den dicken Holzknöpfen seiner Winterjacke, das kleine Gesicht ist in Konzentration zur Grimasse verzogen, er hört nichts. Auf dem Treppenabsatz wartet Judith, bis die Hundekrallen und Frau Posselts Winterstiefel zum Hauseingang geklappert sind. Dann schlägt die Tür zu. Vorsichtig lugt Judith durch das gekippte Treppenhausfenster. Die alte Frau im Persianermantel hat den Hund von der Leine gelassen. Der schnüffelt bedächtig am Fuß eines Parkverbotsschilds. Frau Posselt dreht den Kopf einige Male hin und her, als suche sie jemand. Unter einem hellbraunen Filzhut schauen mit Spray verklebte, kurze weiße Haarsträhnen hervor. An der rechten Seite nickt ein zerzaustes Büschel schimmernder Federn. Judith überlegt. Wachtel, Fasan, durchs Erlenholz kam sie gestrichen, die Schnepfe nämlich. Benn-Zeilen und Versfetzen aus Ulrichs Bilderbuch ›Vogeluhr‹ gehen gleichzeitig durch ihren Kopf, während Frau Posselt die rote Leine um ihr Handgelenk wickelt und sich langsam entfernt. Judith schließt leise das Fenster und rückt ihrem Sohn die Mütze zurecht. Ihnen fehlt noch ein Suppengrün, aber sie hat keine Lust auf einen gemeinsamen, durch das Geschwätz der Alten und Kilians Begeisterung für Schlamper verlangsamten Gang zu Nâzıms Laden.
Draußen ist es kühl, dunkelgelbes Licht steht zwischen den Häusern, noch keine Dämmerung, aber auch keine echte Helligkeit mehr. Kilian ist vor einer Garageneinfahrt in die Hocke gegangen und streichelt den Rücken des alten Hundes mit derselben Sorgfalt, mit der er neuerdings jeden Morgen seine Bettdecke glättet. Das Weidenkörbchen mit dem Einkaufszettel steht nebenihm auf dem Gehweg. Schlamper hält still. Die graue Schnauze zittert. Judith sieht sich schnell um. Frau Posselt hebt einen Pelzärmel und winkt. Die Leine leuchtet wie ein Armband in dem seltsamen Licht, und Judith weiß, daß sie die Strecke, die bereits zwischen ihnen liegt, nicht noch einmal zurückgehen wird. Die alte Dame formt Daumen und Zeigefinger zu einem Halbkreis, schiebt die Finger zwischen die Lippen. Ein heller Pfiff ertönt. Kind und Hund heben die Köpfe. »Sag Ade zum Schlamper, Kilian, die Frau Posselt wartet auf ihn.« Der Junge küßt das Tier auf die Schnauze, es setzt sich langsam in Bewegung. Judith winkt zu Frau Posselt herüber, dann wendet sie sich ab.
Judith ekelt sich vor Frau Posselt. Die alte Nachbarin benutzt rosa Lippenstift in der Farbe von Heringssalat. Häufig malt sie an den Mundwinkeln über den Rand hinaus. Auch auf den in ihrer gelblichen Regelmäßigkeit sofort als Prothese erkennbaren Vorderzähnen sitzen oft farbige Schlieren. Die weißgerandete Brille zieren fettige Tapser, Hautschüppchen sitzen in den Augenbrauen. Goldene Ohrringe hängen in ihren breiten faltigen Läppchen, ein Gewirr von Gold- und Perlenketten klingelt um den Hals. Bluse und Tweedrock sind immer fleckig, dazu duftet sie nach einem altmodischen Parfum, doch darunter liegt der Geruch von Schweiß und schmutziger Unterwäsche. Wenn Kilian und Ulrich zu Frau Posselt hineingehen, aus deren Wohnzimmer man direkt in das Gärtle hinter dem Haus treten kann, luchst ihnen Judith die Mitbringsel unter allen möglichen Vorwänden ab. Mit Gänsehaut auf den Armen wirft sie Schokolade mit längst abgelaufenem Haltbarkeitsdatum, eingetrocknete Gästeseifen aus Luxushotels in Italien und der Schweiz, mottenlöchrige Stofftiere in die
Weitere Kostenlose Bücher