Kürzere Tage
stoisch geradeaus geblickt, egal wie knollig, bocksfüßig und kasperpuppenklein er ihr erschienen war. Mit etwas Mühe stand sie auf und reichte der Frau die Hand. Dann flossen die Worte wie von selbst. Gesten, sparsam und dennoch bedeutungsvoll, begleiteten ihre Erklärungen. Die Königin auf dem Karton. Das Herbstlicht fiel in einem günstigen Winkel auf Judiths imitierte Perlenkette. Die alte Dame besah wohlwollend ihren hellblauen Pullover, die Marlenehosen, Samtjackett und Pumps. Judith hatte nicht viel aus der Hackstraße mitgenommen: ihren alten Stoffaffen, das chinesische Teeservice, Morgenrock, Kosmetika, ein paar Kriminalromane, Kafka, Anne Sexton, Hermann Lenz und auch der Mörike waren pedantisch in alte Stuttgarter Nachrichten gewickelt und in zwei Kartons versenkt worden, während Leitzordner, Karteikästen und Notebook auf dem Schreibtisch zurückgeblieben waren. In Unterwäsche vor dem Schrank hatte sie ohne zu zögern nach ihrer Berufskleidung gegriffen, den Sachen, die sie für das Praktikum in der Galerie angeschafft hatte. Sie kam sich darin zwar wie eine Hochstaplerin vor, aber gleichzeitig auch elegant und beschützt. Anita Berber hatte sie spöttisch gemustert. Ihre Brustwarzen stachen durch den dünnen roten Stoff. Judith schüttelteden Kopf: »Ja klar, du würdest dich in diesem Fummel vor seine Tür setzen und ihm zur Begrüßung die Zunge ins Ohr stecken. Funktioniert wahrscheinlich sogar.« Sie packte ein Baumwollnachthemd, Jeans und ihr einziges Paar Turnschuhe ein. Minis in Lackoptik, Nietengürtel, T-Shirts mit Drachen und Madonnen und ein Haufen stilettbewehrter Schuhe für alle Jahreszeiten blieben im Schrank.
Die alte Dame auf dem Gehweg lächelte und nickte. Ihr freundliches, nahezu begeistertes Verhalten spornte Judith an wie den Schauspieler der Applaus und ließ sie, einem plötzlichen Einfall folgend, weiterreden. Ihre Rechte beschrieb einen Bogen zu den Umzugskartons, dem wie ein arm- und beinloser Rumpf danebenliegenden Tramperrucksack und blieb schließlich in segnender Gebärde auf ihrem eigenen Leib liegen, ungefähr in der Magengegend.
Die Alte klatschte in die Hände. »Ha noi, des freut mi jetzt aber! Mein Name isch Posselt, Luise Posselt. Mein Mann und ich wohnet im Parterre, zwoi Stockwerk unterm Herrn Dokter. Des isch ein Tüchtiger. Der gibt einen guten Vatter.« Judith lächelte: »Ja, ich bin auch sehr stolz auf Klaus.« Es war ein angenehmes Gefühl, in einer Geschichte zu Hause zu sein, die gut ausging und Anspruch auf einen Menschen und seine Zuneigung zu haben, wenigstens für die Dauer dieses Gesprächs. Der freundliche Blick ihres durch und durch bürgerlichen Gegenübers, das ihr zu einem anderen Zeitpunkt sicher kopfschüttelnd und ärgerlich murmelnd hinterhergeschaut hätte, trieb Judith nach vorne.
»Ich war eine ganze Weile im Ausland, in den USA, als Kunsthistorikerin. Aber Klaus hat mir so gefehlt. Ich habe erst drüben gemerkt, daß wir zusammengehören. Dann bin ich zurückgekommen, für eine Ausstellung hier in der Staatsgalerie.« Die Augen der alten Frau wurden kugelrund. »Da haben wir uns wiedergesehen und beschlossen, daß wir heiraten werden.« Judith sprachlangsam und deutlich. Sie hielt sich gerade und sah ihrer Gesprächspartnerin direkt ins Gesicht. Ihre Hände waren nicht mit Knibbeleien an der Nagelhaut beschäftigt, sondern unterstrichen den Fluß der Erzählung. Sie spürte die plötzliche Gewißheit, auch ohne chemische Unterstützung so auftreten zu können, als sei diese Constantinstraßen-Judith ihr wahres Ich, wie ein Kleidungsstück, das die ganze Zeit verkehrt herum getragen worden war und das nun endlich die schimmernde Brokatfläche ans Tageslicht kehrte und alle in Erstaunen versetzte.
Doch Frau Posselt zupfte plötzlich an ihren Mantelaufschlägen und drehte den Kopf hin und her wie ein Vogel. Es schien ihr peinlich zu sein, sie wolle dem sympathischen Freilein Seysollf nichts Verkehrtes sagen, aber diese kleine Gelbhaarige, die fast jeden Abend zum Herrn Doktor kam, immer ihr Klapprädle neben die Treppe schmiß und nie Grüß Gott sagte, die läge ihr schon auf der Seele. Judith nickte, ernsthaft und informiert. »Ja, das ist Annett, Klaus’ Schwester. Bei ihr ist alles im argen, eine ganz traurige Geschichte, Frau Posselt. Sie studiert schon ewig, aber schafft es nicht, ihr Examen zu machen. Und da ist noch dieser Windhund, der sie niemals heiraten wird, sondern sich mit anderen Frauen herumtreibt. Kein Wunder,
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