Küss mich, wenn Du kannst
Blickfeld. Annabelle sah die schattige öffentliche Grünfläche, wo ein paar Zelte standen. Dazwischen spielten mehrere Kinder Softball. Cottages in Zuckerbäckergotik umgaben die Wiese. An winzigen Dachvorsprüngen hingen durchbrochene hölzerne Ornamente. Jedes Häuschen erweckte den Eindruck, es wäre mit Pinseln bemalt worden, die man in Eiscreme getaucht hatte - Limettengrün mit Coca-Cola-Braun und Kantalupemelonen-Schnörkeln; oder Himbeerrot mit Zitronen- und Mandelnuancen. Hinter den Bäumen entdeckte sie einen schmalen Sandstrand und das leuchtend blaue Wasser des Michigan-Sees.
»Kein Wunder, dass Kevin sich hier so wohl fühlt«, meinte Heath.
»Genau wie der Nachtigallenwald in Mollys ›Häschen Daphne‹-Büchern. Zum Glück hat sie Kevin ausgeredet, dieses Feriengebiet zu verkaufen.« Seit sein Urgroßvater, ein methodistischer Wanderprediger, auf diesem Gelände ein Zentrum für religiöse Erweckungsveranstaltungen gegründet hatte, befand es sich im Familienbesitz. Zuerst hatte es Kevins Großvater geerbt, dann sein Vater, danach seine Tante und schließlich er selbst.
»Wie gepflegt das alles aussieht«, bemerkte Heath. »Ich habe mich immer gewundert, warum er das Grundstück behalten hat.«
»Jetzt wissen Sie‘s.«
»Ja, jetzt weiß ich‘s.« Er nahm seine Sonnenbrille ab. »Diese Aktivitäten an der frischen Luft vermisse ich. Während ich aufwuchs, lief ich dauernd durch den Wald.«
»Um zu jagen oder Fallen zu stellen?«
»Nein, ich hatte keine Lust, irgendwelche Lebewesen zu töten.«
»Weil Sie langsame Folterungen vorziehen.«
»Sie kennen mich viel zu gut, Annabelle.«
Nun fuhren sie die Straße entlang, die um die Gemeindewiese herumführte. Über den Türen aller Cottages hingen sorgsam gemalte Schilder - »Grüne Aue«, »Milch und Honig«, »Lamm Gottes«, »Jakobsleiter«. Annabelle drosselte das Tempo und bewunderte die Frühstückspension, ein stattliches Haus im Queen-Anne-Stil, mit Türmchen, breiten Veranden und Kletterpflanzen. Neben dem Eingang saßen zwei Frauen in hölzernen Schaukelstühlen und plauderten.
Heath studierte die Wegbeschreibung und zeigte auf eine schmale Straße, die parallel zum See verlief. »Nach links.«
Während sie die Anweisung befolgte, überholten sie eine ältere Frau mit einem Fernglas und einem Wanderstock. Dann kamen ihnen zwei Teenager auf Fahrrädern entgegen. Schließlich erreichten sie das Ende der schmalen Straße und hielten vor dem letzten Cottage, einem Puppenhaus, dessen Türschild mit »Lilien auf dem Feld« beschriftet war. Gelb gestrichen, mit altrosa und hellblauen Akzenten, schien es aus einem Bilderbuch für Kinder zu stammen.
Einerseits fand Annabelle das Häuschen zauberhaft, andererseits wünschte sie, es wäre nicht so weit entfernt von den übrigen Cottages. Heath sprang aus dem Wagen und holte das Gepäck aus dem Kofferraum. Durch eine knarrende Tür mit Fliegengitter betraten sie das Wohnzimmer, das abgenutzt und behaglich wirkte - authentischer schäbiger Schick statt überteuerter Innendekoration. Naturweiße Wände, eine gemütliche Couch mit fadenscheinigem Blumenmuster, zerkratzte Messinglampen, ein abgeschmirgelter Schrank aus Kiefernholz. Neugierig spähte sie in die winzige Küche mit dem antiquierten Gasherd.
Neben dem Kühlschrank führte eine Tür auf eine schattige, eingezäunte Veranda. Sie ging hinaus und inspizierte eine Hollywoodschaukel, Sessel aus Weidengeflecht, einen alten Klapptisch und zwei bunt bemalte Stühle.
»Keine Sirenen.« Heath blieb hinter ihr stehen. »Keine Müllwagen, keine Autoalarmanlagen. Diesen Klang echter Stille habe ich völlig vergessen.«
»So privat.« Annabelle atmete den feuchten, kühlen Geruch der Pflanzen ein. »Wie ein Nest.«
»Jedenfalls sehr hübsch.«
Ihr war es etwas zu idyllisch, und sie ging wieder hinein, um die anderen Räume zu besichtigen - ein altmodisches Bad und zwei Schlafzimmer. Im größeren stand ein Doppelbett mit einem eisernen Kopfteil. Und zwei Reisetaschen... »Heath?«
»Ja?«, fragte er und steckte den Kopf zur Tür herein.
Sie zeigte auf seine Reisetasche. »Hier haben Sie was vergessen.«
»Erst mal müssen wir um das größere Bett knobeln.«
»Netter Versuch. Aber das ist meine Wochenendparty. Also kriegen Sie das Kinderzimmer.«
»Ich bin Ihr Klient, und dieses Bett sieht komfortabler aus.«
»Klar. Deshalb werde ich darin schlafen.«
»Okay«, stimmte er erstaunlich gutmütig zu. »Dann schleife ich die andere
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