Küsse im Morgenlicht
hindurch und dann durch ein kleines Buschdickicht, bis sie einen schmalen Pfad erreichten, der zahlreiche Kurven beschrieb und über den man schließlich jenen von Menschenhand aufgeschichteten Hügel erklimmen konnte, in dessen Fundament die Grotte gegraben worden war. Der Hügel war Teil der künstlich angelegten Landschaft, und auf seinem höchsten Punkt stand eine steinerne Bank, an deren Rückenlehne duftender Thymian wuchs, und von der aus man einen wundervollen Ausblick auf die Felder im Westen des Landsitzes hatte. Einige Lorbeerbüsche waren genau so gestutzt worden, dass ihre Äste die Bank in kühlen Schatten tauchten. Mit einem dankbaren Seufzer ließ Amelia sich darauf nieder und klappte ihren Sonnenschirm zusammen.
Tief unter ihnen ertönte gedämpftes Gekicher, das mit dem leichten Luftzug, der vom See heraufwehte, zu ihnen heraufgetragen wurde. Wie in Gedanken versunken ließ Luc den Blick über die Landschaft schweifen. Dann wandte er sich zu Amelia um. Seine dunklen Augen musterten sie kurz, aber eindringlich. Dann ließ er sich schließlich neben ihr nieder. Entspannt lehnte er sich zurück und legte einen Arm über die Rückenlehne.
Amelia wartete. Dann wandte sie sich ihm zu und blickte ihn an. Ruhig und verstörend attraktiv saß er neben ihr, eine zarte Brise spielte mit seinem schwarzen Haar, und in der Art, wie er gelassen seine langen Glieder ausstreckte, lag eine starke, doch auch ziemlich gefährliche Anziehungskraft. Nachdem er noch einen Moment lang die Aussicht genossen hatte, wandte er Amelia sein Gesicht zu, erwiderte ihren Blick und sah ihr forschend in die Augen.
Sie wollte gerade etwas sagen - höchstwahrscheinlich irgendeine bissige Bemerkung -, als er die Hand hob und sie dicht bis an ihr Gesicht heranführte. Doch er berührte sie nicht. Stattdessen fuhr er mit den Fingerspitzen durch eine kleine Locke, die sich an ihrem Ohr ringelte, wickelte die feine Haarsträhne um einen Finger und zupfte dann ganz vorsichtig einmal daran.
Er sah Amelia unverwandt in die Augen, während er sie langsam immer näher und näher zu sich herüberzog, bis er mit seinen langen Fingern ihren Nacken umschlang, um sie noch dichter an sich zu ziehen, und sie den Blick senkte, den Mund leicht öffnete und nur noch auf seine Lippen sah. Dann ließ er sanft den Daumen unter ihr Kinn gleiten, hob ihr Gesicht ein wenig zu sich empor und presste seine langen, schmalen Lippen auf die ihren.
Er hatte sich nicht einen Zentimeter von der Stelle bewegt. Stattdessen hatte er Amelia dazu verführt, sich zu ihm hinüberzuneigen, und mit dem Kuss war es das Gleiche. Er küsste sie fordernd und selbstsicher, lockte sie mit seinen wortlosen Versprechungen immer tiefer in die Liebkosung hinein. Er neckte sie, indem er sie erahnen ließ, wie viel mehr sie noch von ihm bekommen könnte, welche sinnlichen Genüsse er ihr bereiten könnte und würde - wenn Amelia dies denn wollte.
Wenn sie die Entscheidung dazu treffen sollte, wenn sie sich in seine Arme schmiegte, die Lippen öffnete und ihm ihren Mund anbot. Wenn sie sich ihm endlich hingäbe...
Amelia rückte ein wenig näher, und der Sonnenschirm glitt von ihrem Schoß, als sie die Hände hob und sie auf Lucs Brust legte, sich noch dichter zu ihm hinüberbeugte, den Kuss vertiefte und ihn zu noch mehr ermutigte. Mit plötzlicher Klarheit schoss ihr die Erkenntnis durch den Kopf - das war also der Grund, weshalb er bei den Damen der Londoner Gesellschaft einen solchen Erfolg hatte, weshalb sie sich ihm nahezu vor die Füße warfen und alle um seine Aufmerksamkeit buhlten.
Denn er wusste ganz einfach, dass er niemals auch nur den leisesten Druck auszuüben brauchte. Er wusste, dass er nichts anderes tun musste, als einfach nur - mit einem Blick oder einer kleinen Geste - eine leise Einladung auszusprechen, die Möglichkeit anklingen zu lassen, dass... Und sofort würde jede Dame seine Aufforderung bedingungslos annehmen. Jede Dame, die ihm jemals so nahe gekommen war, dass sie die sinnliche Männlichkeit seines Körpers hatte erahnen können, die gespürt hatte, wie seine Finger ihr Handgelenk streichelten, die erfahren hatte, wie atemberaubend gut er küssen konnte.
Doch im Gegensatz zu den anderen Damen kannte Amelia Luc durch und durch. Sie wusste, dass das Bild des gelangweilten, fast schon blasierten Beaus nur Fassade war. Sie allein begriff, dass seine gleichmütige Maske dünner war als Pappmaché, dass er eine Dame durchaus auch gegen ihren Willen
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