Küssen ist die beste Medizin (German Edition)
meiner Zeit wussten wir noch, was ein gutes Opfer war“, brummelte Gladys.
Marsha ignorierte sie. „Montana, hast du das Gefühl voranzukommen?“
„Keine Ahnung. Ich weiß nicht genau, was er denkt.“
Die Bürgermeisterin nickte, und die Versammlung wandte sich wieder anderen Themen zu. Als sie damit fertig waren, bat die Bürgermeisterin Montana, noch nicht gleich zu gehen.
„Weißt du, wie er zu seinen Narben gekommen ist?“, fragte die ältere Frau, als sie nur noch zu zweit waren.
Die Art, wie sie die Frage stellte, stellte klar, dass sie die Antwort kannte.
Montana rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. „Er hat es mir nicht erzählt.“
„Möchtest du es wissen?“
Ihr Ton war freundlich, ihre Miene besorgt. Bürgermeisterin Marsha würde es ihr nicht erzählen, wenn sie es nicht wissen wollte.
Montana nickte.
Marsha setzte sich ihre Lesebrille auf und öffnete eine schmale Mappe, die vor ihr lag.
„Nach allem, was ich herausfinden konnte, hatte seine Mutter nicht das geringste Interesse an ihm. Zu Simons Vater keinWort. Er scheint sehr früh von der Bildfläche verschwunden zu sein, vielleicht schon, während sie schwanger war. Den Polizeiberichten zufolge hat ihr Freund sie verlassen, weil er Simon … befremdlich fand.“
Über den Rand ihrer schmalen Gläser hinweg sah Marsha Montana an. „Er war sehr intelligent, auch schon in jungen Jahren. Mit elf hatte er bereits zwei Klassen übersprungen, und es war damit zu rechnen, dass weitere folgen würden.“
Montana umklammerte den Rand des großen Konferenztischs, denn sie hatte das Gefühl, dass sie diesen Halt brauchte.
„Als dieser Freund sich von ihr trennte, gab Simons Mutter ihrem Sohn die Schuld. Sie hat ihn in den offenen Kamin gestoßen.“ Wieder blickte Marsha auf und nahm ihre Brille ab. „Seine Narben sind ja nicht zu übersehen. Als er versuchte, herauszuklettern, hat sie ihn noch einmal zurückgestoßen. Es ist eine Art Wunder, dass er nicht gestorben ist.“
Nicht kotzen! wies Montana sich an, während sich ihr der Magen wieder und wieder umdrehte. Denk nicht daran und übergib dich nicht!
Der Horror packte sie, und kurz blendete ihr Gehirn das Bild von Freddie ein, dessen Vater ihm absichtlich Schnittwunden zugefügt hatte.
„Die Nachbarn haben einen Krankenwagen gerufen, und die Notärzte wiederum haben die Polizei informiert. Als Simon weggetragen wurde, hat die Mutter alles gestanden. Es war ihr egal, ob sie ins Gefängnis musste. Sie wollte ihren Sohn nie wiedersehen, denn so wie sie das sah, hatte Simon ihr Leben ruiniert.“
Die Bürgermeisterin setzte ihre Brille wieder auf und las weiter. „Fast vier Jahre blieb er im Krankenhaus. Unzählige Male wurde er operiert. Erstaunlicherweise war er in der Lage, sich den versäumten Lehrstoff allein beizubringen, er wurde nur ab und zu von einem Lehrer unterstützt, der ehrenamtlich zu ihm kam. Er hat den SAT und American College Test mit nahezu perfekten Noten bestanden und mit sechzehn Jahren einVollstipendium für die Stanford University erhalten. Von dort aus ging er an die medizinische Fachhochschule in L. A.“
Montana konnte nicht mehr zuhören. „Entschuldigung“, sagte sie und schob ihren Stuhl zurück. „Ich muss gehen.“
Sie griff nach ihrer Handtasche und eilte aus dem Raum. Die Tür nach draußen schien meilenweit entfernt zu sein, aber schließlich schaffte sie es und war wieder in der Lage zu atmen.
Das kann nicht wahr sein, dachte sie, während sie leicht vorgebeugt nach Luft schnappte. Sie wünschte, sie hätte es nicht erfahren.
Aber das Wissen war nicht mehr rückgängig zu machen. Die Realität von Simons Vergangenheit entsetzte sie. Sie hatte Kalindas Verbrennungen gesehen. Simons mussten genauso schlimm gewesen sein. Vielleicht sogar schlimmer. Sie wusste, dass sich seine Narben vom Gesicht über den Hals nach unten erstreckten und auch seinen Körper bedeckten. Das hatte er ihr gesagt.
Seine Mutter hatte ihn nicht nur ins Feuer gestoßen, sie hatte auch noch versucht, ihn dort festzuhalten. Sie hatte versucht, ihn auf die schlimmste, schmerzhafteste Weise zu bestrafen oder sogar zu töten. Die ganze Zeit musste Simon geschrien haben, musste darum gekämpft haben, sich zu befreien. Ausgerechnet der Mensch, der ihn hätte lieben sollen, hatte ihn beinahe vernichtet.
Montana richtete sich wieder auf und merkte erst jetzt, dass sie weinte. Die Tränen stiegen ihr in die Augen und liefen ihr über die Wangen. Tränen für den Jungen,
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