Küssen will gelernt sein: Roman (German Edition)
auf die Lippe, um ihre übliche Entschuldigung zurückzuhalten. Ihr war egal, dass sie ihrer Mutter Sorgen bereitet hatte.
»Warte nur, bis sie erfährt, dass die Wahrheit noch schlimmer ist als alles, was sie sich hätte ausmalen können.«
»Wie hast du mich gefunden?«
»Das tut zwar nichts zur Sache, aber mehrere Leute unten am Supermarkt haben dich in Allegrezzas Wagen kriechen sehen. Hättet ihr das Tor zum Angel Beach nicht offen stehen lassen, hätte ich länger gebraucht, aber ich hätte dich schon gefunden.«
Das glaubte Delaney ihm unbesehen. Sie wandte sich ab und starrte durch das Beifahrerfenster in die dunkle Nacht. »Ich kann es nicht fassen, dass du mir nachspioniert hast. Ich bin achtzehn, und ich kann es nicht fassen, dass du die ganze Stadt nach mir abgeklappert hast, als wäre ich erst zehn.«
»Und ich kann es nicht fassen, dass ich dich nackt angetroffen habe wie eine billige Nutte«, knurrte er und fuhr mit seinen verbalen Schlägen fort, bis er den Lincoln in die Garage fuhr.
So gefasst wie unter diesen Umständen möglich stieg Delaney aus dem Wagen und ging ins Haus. Dort wurde sie von ihrer Mutter in der Küche empfangen.
»Wo bist du gewesen?«, fragte Gwen pikiert und musterte Delaney von Kopf bis Fuß.
Ohne eine Antwort ließ Delaney sie stehen. Henry würde es ihr schon haarklein erzählen. Das tat er immer. Und dann würden sie gemeinsam über ihr Schicksal entscheiden, ihr wahrscheinlich Hausarrest erteilen wie einem Kind. Sie stieg die Treppe hinauf in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie hatte nicht vor, sich zu verstecken. Es brachte sowieso nichts, und selbst wenn doch, hatte die Lektion des heutigen Abends sie gelehrt, wie sinnlos und überflüssig Unabhängigkeit war.
Sie betrachtete sich im Standspiegel. Ihre Mascara verlief
über ihre Wangen, ihre Augen waren gerötet, ihr Gesicht blass. Ansonsten sah sie aus wie immer. Sie sah nicht so aus, als hätte die Erde unter ihren Füßen gebebt. Als wäre sie ein anderer Mensch. Ihr Zimmer sah noch genauso aus wie vor Stunden, als sie heimlich aus dem Fenster geklettert war. Die Fotos steckten noch am Spiegel, und das Rosenmuster auf ihrer Tagesdecke war noch dasselbe wie sonst auch. Und doch war alles anders. Sie war anders.
Sie hatte Nick erlaubt, Sachen mit ihr anzustellen, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Klar, sie hatte schon von Oralverkehr gehört. Ein paar Mädchen aus ihrem Mathekurs hatten mit ihrem Wissen geprahlt, wie man Jungs einen blies, doch bis heute Abend hatte Delaney nicht geglaubt, dass die Leute so was wirklich taten. Jetzt wusste sie es besser. Jetzt wusste sie, dass der Mann die Frau, mit der er zusammen war, dafür nicht einmal mögen musste. Jetzt wusste sie, dass ein Mann noch aus anderen Gründen als aus Leidenschaft oder gegenseitiger Anziehung unglaublich intime Dinge mit einer Frau anstellen konnte. Sie wusste jetzt, wie es war, nur benutzt zu werden.
Als sie an Nicks warmen Mund an der Innenseite ihres Schenkels dachte, liefen ihre blassen Wangen rot an, und sie wandte den Blick von ihrem Spiegelbild. Was sie sah, war ihr peinlich. Sie hatte sich frei fühlen wollen. Frei von Henrys Kontrolle. Frei von ihrem langweiligen Leben.
Sie war echt dämlich.
Delaney warf sich in Jeans und T-Shirt und wusch sich das Gesicht. Danach ging sie in Henrys Arbeitszimmer, wo ihre Eltern erwartungsgemäß schon auf sie warteten. Sie standen wie eine Front hinter dem Mahagonischreibtisch, und nach Gwens Miene zu urteilen, hatte Henry sie auch noch über das allerletzte schreckliche Detail ins Bild gesetzt.
Gwens blaue Augen waren vor Entsetzen geweitet, als sie ihre Tochter ansah. »Tja, mir fehlen die Worte.«
Delaney setzte sich in einen der Ledersessel vor dem Schreibtisch. Fehlende Worte hatten ihre Mutter noch nie von einer Standpauke abgehalten. Genauso wenig wie jetzt.
»Sag mir, dass Henry sich irrt. Sag mir, dass er dich nicht in einer kompromittierenden Situation mit diesem Allegrezza-Jungen überrascht hat.«
Delaney schwieg. Sie wusste, dass sie nicht gewinnen konnte. Das tat sie nie.
»Wie konntest du nur?« Gwen schüttelte konsterniert den Kopf und fasste sich an die Kehle. »Wie konntest du deiner Familie so etwas antun? Hast du auch nur einen Gedanken an die Position deines Vaters in dieser Gemeinde verschwendet, als du heimlich aus dem Fenster gekrochen bist? Hast du auch nur einmal kurz daran gedacht – und sei es nur eine
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