Küstenfilz
er es, nach links oder rechts zu sehen. Es fiel ihm
schwer genug, sich auf die Schwellen zu konzentrieren, zwischen denen die
Lücken den Blick nach unten freigaben. Mit beiden Händen klammerte er sich an
die Brüstung, als er die Lokomotive erreicht hatte. Im Zeitlupentempo hangelte
er sich an ihr vorbei, bis er die geöffnete Tür erreichte.
»Mein Gott«, hörte er die Stimme des Schaffners, der
ihn mit bleichem Gesicht ansah. Dann sank der Uniformierte in die Knie, krallte
sich an der Tür fest und streckte Lüder die Hand entgegen. Ein zweiter Mann
folgte seinem Beispiel. Mit vereinten Kräften zogen sie Lüder in die Höhe. Noch
einmal rutschte er ab, baumelte mit den Beinen einen kurzen Moment über dem
Geländer, bis er erschöpft auf den Fußboden des Wagens fiel. Eine Reihe von
Leuten hatte sich auf der Plattform zwischen den Türen eingefunden. Alle
starrten ihn aus weiten Augen an. Hilfreiche Hände halfen ihm auf die Beine.
Lüder schüttelte sich wie ein nasser Hund. Der Regen
hatte ihn komplett durchnässt. Seine Hose war zerrissen, blutige Schrammen
waren am Schienbein zu erkennen.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte der Schaffner.
Lüder versuchte ihn anzugrinsen, was aber nur
unzureichend gelang.
»Fahren Sie nach Rendsburg?«, fragte er den
Uniformierten. »Einmal zweite Klasse, bitte. Ohne Rückfahrt.«
ELF
Es herrschte die
übliche Betriebsamkeit im Hause Lüders. Sinje strahlte aus ihrem Hochstuhl
jeden an, der in ihre Nähe kam. Thorolf war in ein Streitgespräch mit seiner
Schwester Viveka verwickelt und erklärte ihr gerade, wie doof Mädchen in seinen
Augen seien und dass eine Welt ohne Frauen wesentlich gemütlicher wäre. Jonas
hingegen war dankbar für weibliche Unterstützung, denn die überall gegenwärtige
Margit war damit beschäftigt, den Fleck grob von der Tischdecke zu beseitigen,
den er mit einer natürlich auf die falsche Seite gefallenen Brötchenhälfte
verursacht hatte, die er sich fingerdick mit Schokoladencreme beschmiert hatte.
Und was nicht auf der Decke gelandet war, zierte jetzt großflächig das Areal um
Jonas’ Mund. Er nahm noch einen Schluck Milch, vermischte das Ganze
geräuschvoll zwischen den Zähnen zu einem Brei und beugte sich über den Tisch zu
Lüder hinüber.
»Nun erzähl, was
gestern Abend los war«, forderte er seinen Vater auf.
»O ja«, stimmte
Thorolf ein und fand dieses Thema plötzlich spannender als die
Auseinandersetzung mit seiner Schwester. Selbst Margit hielt einen Moment inne
und sah Lüder an.
Der winkte ab.
»Nichts. Wir haben einen Fall abgeschlossen.«
»Und wie kommt es,
dass deine Kleidung zerrissen war? Und die Schrammen an den Händen und Beinen?«
»Das kommt vor.«
»Warst du an der
Aktion in Rendsburg beteiligt, von der ich vorhin im Radio gehört habe?«
»Was für ‘ne
Aktion?«, kam es zeitgleich aus Vivekas und Thorolfs Mund, während Jonas noch
einen herzhaften Bissen zu sich nahm und dann fragte: »Habt ihr rumgeballert?«
Lüder fuhr dem
Jungen mit der Hand über den Kopf. »Tüddelnase. Wie oft soll ich dir noch
erzählen, dass die Polizei nicht schießt? Wir klären unsere Fälle mit Köpfchen
und durch Nachdenken.«
»Schade«, gab Jonas
enttäuscht von sich. »Wozu brauchst du denn deine Waffe?«
»Erstens benutze ich
sie nie. Und dann dient sie nur der Abschreckung. Das habe ich dir schon öfter
erklärt.«
Jonas ließ ein
kindliches Lachen hören und war erschrocken, als bei dieser Aktion Teile seines
Brötchens aus den Mundwinkeln rutschten. »Das glaube ich nicht. Mich kannst du
mit deiner Pistole nicht erschrecken.«
Jetzt mischte sich
Margit ein. »Du willst mir doch nicht weismachen, dass deine verschmutzte
Kleidung von nichts kommt?«
»Am Einsatzort war
es dunkel. Da bleibt man am Buschwerk hängen.«
Margit musterte
Lüder durchdringend. »Warst du der Polizist, von dem sie in den Nachrichten
gesprochen haben? Der, der den Täter auf der Hochbrücke verfolgt hat?«
Lüder versuchte,
einen unschuldigen Gesichtsausdruck aufzulegen. »Wer? Ich?« Er schüttelte den
Kopf. »Ich bin Kriminalrat, mein Schatz. Solche gefährlichen Einsätze
übernehmen die Kollegen von der Schutzpolizei. Die müssen sich täglich
riskanten Situationen stellen.«
»Dann will ich auch
lieber zur Schutzpolizei«, beschloss Jonas.
Lüder starrte auf
das Display seines Handys.
»Hast du eine SMS bekommen?«, fragte Margit.
»Nein, ein
Zahlenrätsel.«
»Zeig mal.«
Lüder wehrte ab.
»Damit will ich dich nicht
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