Küstenfilz
ist
dort sicher. Ähnlich würde Lüder sich entschieden haben, wenn er an Kummerows
Stelle wäre. Wo würde man ihn nicht vermuten? Lüder war es zumindest einen
Versuch wert. Rendsburg lag ohnehin auf seinem Heimweg nach Kiel, und er wollte
der Wohnung des toten Harry Senkbiel, die derzeit verwaist war, einen Besuch
abstatten.
Wenn der Frühling sich bisher auch von seiner besten
Seite gezeigt hatte, so waren im Laufe des Nachmittags doch immer mehr Wolken
von Westen herübergezogen. Seit er das Seehotel verlassen hatte, begleitete ihn
ein leichter Nieselregen, der südlich Schleswigs in einen kräftigen Landregen
übergegangen war. In Rendsburg war es dunkelgrau. Hinter vielen Fenstern
brannte Licht.
Auf dem Viadukt rumpelte ein Zug im Schritttempo
vorüber. Die langsame Fahrt resultierte nicht nur aus der zu bewältigenden
Steigung, sondern auch aus der Baustelle, die von hier unten deutlich sichtbar
war. Einige der filigranen Stahlstützen des Bauwerks waren mit Plastikplanen
eingekleidet.
Das Haus, in dem Senkbiel bis zu seinem Tod gelebt
hatte, unterschied sich von der Mehrheit seiner Nachbarn dadurch, dass es
geputzt und weiß gestrichen war. Der Spitzgiebel zeigte zur Straßenfront, und
die irgendwann einmal modernisierten Fenster waren mit türkisfarbenen
Umrandungen abgesetzt. Im kleinen Vorgarten zierten Säulenkoniferen das
Anwesen.
Senkbiel hatte Räume im Obergeschoss bewohnt.
Blumentöpfe standen hinter dem Glas auf der Fensterbank. Lüder stutzte, als er
bemerkte, dass eines der Fenster in Kippstellung war. Jemand hatte es zum Lüften
geöffnet. Das konnten nicht die Beamten der Spurensicherung gewesen sein, die
als Letzte die Wohnung betreten hatten.
Am Türschild stand noch der Name Senkbiel. Lüder
drückte einen anderen Klingelknopf. Nach einer Weile wurde die Tür geöffnet.
Ein älterer Mann, über dessen runden Bauch sich das Oberhemd mächtig spannte,
öffnete die Tür einen Spalt. Eine knollige rote Nase beherrschte das gemütliche
Gesicht.
»Ja bitte?«, fragte der Mitbewohner durch den
Türspalt.
»Guten Abend«, sagte Lüder. »Ich komme von der GEZ . Ich wollte zu Herrn Senkbiel. Wir
haben erfahren, dass er umziehen will.«
Der Mann öffnete die Tür einen Spalt weiter. Mit dem
Begriff GEZ konnte er etwas
anfangen.
»Herr Senkbiel ist tot«, erklärte er.
»Entschuldigung«, erwiderte Lüder. »Manchmal bekommen
wir nur unzureichende Informationen.« Er zwinkerte mit dem rechten Auge. »Die
kleinen Mädchen in der Verwaltung machen sich häufig wenig Gedanken über das,
was sie in das Formular eintragen.«
»Das kann ich gut glauben«, sagte der freundliche Hausbewohner
und gab die Tür ganz frei. »Kommen Sie mal rein. Heute ist schon der neue
Mieter eingezogen. Ich habe ihn zufällig im Hausflur getroffen. Ein netter und
zurückhaltender junger Mann. Wollen Sie zu ihm?« Die mit dichten dunklen Haaren
bewachsene Hand zeigte ins Obergeschoss. »Gleich oben links.«
In diesem Moment hörte Lüder, wie am oberen Ende der
Treppe die Wohnungstür leise ins Schloss gedrückt wurde. Jemand hatte sie
belauscht. Er drängte den verdutzen Mann zur Seite. »Polizei«, raunte er ihm zu,
»gehen Sie in Ihre Wohnung und verschließen Sie die Tür.«
»Ja, aber …«, stammelte der Mitbewohner und blieb wie
angewurzelt auf seinem Platz stehen.
Lüder überwand die Stufen ins Obergeschoss mit
schnellen Sätzen und lauschte. Hinter der Tür war nichts zu hören. Plötzlich
schepperte es. Porzellan war zu Boden gefallen und zerbrochen. Die Blumentöpfe,
schoss es Lüder durch den Kopf. Kummerow flüchtet aus dem Fenster. Er drehte
sich um, sprang die Stufen hinab und stieß mit dem am Fuß der Treppe wartenden
Mann zusammen.
»Moment mal«, sagte der ältere Herr und packte Lüder
am Zeug.
»Lassen Sie mich. Ich bin von der Polizei.«
»Das kann jeder sagen«, entgegnete der Mann mutig und
hielt Lüder immer noch mit eiserner Faust. Lüder wollte den Mitbürger nicht
verletzen, griff mit der freien Hand in seine Tasche und zog den Dienstausweis
hervor.
Der Mann warf einen Blick darauf, murmelte: »Ohne
Brille sehe ich nichts«, und lockerte dennoch seinen Griff.
»Rufen Sie die Polizei an. Eins eins null«, rief ihm
Lüder zu. »Sagen Sie, Kummerow wäre auf der Flucht.«
»Mach ich«, sagte der Mann, blieb aber trotzdem stehen
und rief Lüder hinterher: »Wer ist auf der Flucht?«
Wertvolle Sekunden waren verloren gegangen. Als Lüder
die Straße erreichte, sah er ein offenes
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