Kullmann
tierische Schreie ausstieß! Nimmsgern wagte kaum, zu atmen. Staunend lauschte er dem Treiben hinterher, bis es abebbte. Die alte Stille umfing ihn wieder wie eine klamme Rüstung. Sollte das das Ende des Spuks sein, sollte seine Angst ein Ende finden? Eine schlaffe Erleichterung überkam ihn. Er sog tiefer die kalte Luft ein, wie um verlorene Kraft aufzutanken.
Nach einer Weile setzte er seinen Weg fort. Erleichtert steckte er seine Waffe in seine Jackentasche zurück.
Aber es dauerte nicht lange, da tauchte im Schein einer Straßenlaterne ein Mann vor ihm auf. Nimmsgern zuckte zusammen, weil er sich schon in Sicherheit geglaubt hatte. Als er das Lachen des Mannes hörte, erkannte er ihn. Wütend über die Frechheit dieses Kerls, ihn in der Stunde größter Lebensgefahr auch noch auszulachen, schimpfte er: »Was tust du hier? Willst du dich an meinen Angstzuständen weiden?«
Sein Gegenüber lachte einfach weiter.
»Um mir zu helfen, bist du doch bestimmt nicht hier!«
Der andere lachte leise weiter, kaum hörbar, trat ohne Hast auf ihn zu und tat etwas völlig Unvorhergesehenes. Plötzlich, ohne dass Nimmsgern verstand, wie das überhaupt möglich war, schaute er in den Lauf seiner eigenen Waffe.
*
Wie oft hatte Anke schon die Akte studiert? Der zündende Gedanke wollte einfach nicht kommen, wie es bei Arthur Conan Doyles Hauptfigur Sherlock Holmes immer im entscheidenden Moment funktionierte. Seit neun Monaten wurde schon der Todesfall Luise Spengler in ihrer Abteilung bearbeitet, und sie waren noch keinen Schritt weitergekommen. Im August des vergangenen Jahres war Luise aus dem Fenster ihres Schlafzimmers in den Tod gestürzt. Selbstmord kam nicht in Frage, weiter waren sie mit ihren Ermittlungen nicht gekommen. Aber wie sollten sie noch nach so langer Zeit zweifelsfrei feststellen können, dass Mord vorlag und kein tragischer Unfall? Ihr Vorgesetzter, Norbert Kullmann, war von dem Gedanken geradezu besessen, dass Luise Spengler aus dem Fenster gestoßen worden war. Und seine Hartnäckigkeit hatte sie kennengelernt. Dagegen war kein Kraut gewachsen. Also musste sie darauf hoffen, auf Indizien zu stoßen, da es nach so langer Zeit wohl kaum noch Beweise gab.
Seufzend erhob sie sich, stellte sich ans Fenster, das zur Straße lag, und beobachtete die Menschen, die geschäftig dort vorbeieilten. Der Frühling zeigte sich von seiner schönsten Seite; die Sonne schien, die Temperaturen waren herrlich angenehm. Bei dem Anblick der Menschen, die ausgelassen und gut gelaunt durch die Straße gingen, bekam Anke das trügerische Gefühl, alles sei unbeschwert und heiter. Aber wenn sie sich umdrehte und in die Büroräume schaute, insbesondere auf die Arbeit, die auf ihrem Schreibtisch lag, beschlich sie das Gefühl, dass der Schein trog.
Vor einem halben Jahr, im November des letzten Jahres, war ein Kollege aus der Abteilung, Walter Nimmsgern, auf dem Nachhauseweg erschossen worden. Dieses schreckliche Ereignis hatte sie alle aus dem Gleichgewicht gebracht, weil ihnen dadurch vor Augen geführt worden war, welchen Gefahren sie wirklich ausgesetzt waren. Das Bild, das Verbrechen geschehe an wildfremden Menschen und die Kollegen seien nur dafür da, es aufzuklären, war damit heftig ins Wanken geraten. Es konnte alle treffen, wie sie hautnah erleben mussten, auch einen Kollegen der Polizei. Besonders belastend wirkte es sich noch dadurch aus, dass es von dem Täter nicht die geringste Spur gab. Im Laufe der Zeit hatte sich die Verunsicherung in der Abteilung zwar etwas gelegt, aber eine schwelende Angst war zurückgeblieben. Bei ungewöhnlichen Geräuschen drehte Anke sich oft erschrocken um und fürchtete, dass sie die Nächste sein könnte. Die Tatsache, dass der Fall nicht aufgeklärt war und vor allem, dass die Kollegen noch keinen Schritt weitergekommen waren, schürte diese Angst. Das Entmutigende war, dass ausgerechnet in diesem Fall, der Anlass zu besonders intensiven Ermittlungen sein sollte, keinerlei Hinweise auf das Motiv, geschweige denn auf einen möglichen Verdächtigen gefunden werden konnten. Sie tappten im Fall Nimmsgern völlig im Dunkeln. Das bedeutete, dass es zwei unaufgeklärte Todesfälle in ihrer Abteilung gab, eine Bilanz, die nicht nur nicht vorzeigbar, sondern auch gerade für Kullmann besonders erschütternd war, weil er ausgerechnet in diesem Herbst in Pension gehen wollte. Mit Sicherheit wollte er seine vierzigjährige Dienstzeit nicht mit zwei unaufgeklärten Mordfällen abschließen.
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