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Kultur 08: Der Algebraist

Kultur 08: Der Algebraist

Titel: Kultur 08: Der Algebraist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iain Banks
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Schockgelbett erheben konnte, ließ er
das Pfeilschiffchen allmählich mit der Nase abkippen, bis er zu
drei Vierteln senkrecht stand.
    Das Blut rauschte ihm in den Ohren. Er wurde langsam durch das Gel
nach unten gedrückt, bis er zumindest teilweise auf der
Schmalseite des engen Sarges stand. Füße und Beine
protestierten gegen das ungewohnte Gewicht.
    Jetzt konnte er sich aus der Höhlung befreien. Er schob sich
mit den Ellbogen nach vorne. Seine Augen begannen zu tränen.
Endlich konnte er weinen. Vor Anstrengung zitternd zog er einen
klebrig glitschigen Kiemenwasserfaden aus seinem rechten Nasenloch,
öffnete den Mund und schluckte etwas von dem Gas.
    Nasqueron roch nach faulen Eiern.
    Er blinzelte die Tränen weg, so gut es ging, und sah sich um.
Der Interfacekragen saugte sich an seinem Hals fest, um den Kontakt
nicht zu verlieren, als er sich streckte, um nach oben zu schauen.
Alt und schmutzig sah dieses Nasqueron aus. Wie eine große
Schüssel mit schaumig geschlagenen Eiern, in die man eine Ladung
flüssiger Scheiße eingerührt hatte, um das Ganze dann
mit Blutströpfchen zu bespritzen. Und es hinterließ einen
schwefligen Geschmack im Mund. Fassin ließ den
Kiemenwasserfaden zurückschnellen. Er verschloss das Nasenloch
und versorgte ihn wieder mit reiner, sauerstoffreicher Luft. Nur der
Gestank blieb zurück.
    Fassin schwitzte vor Anstrengung, aber auch, weil es heiß
war. Vielleicht hätte er das Manöver besser weiter oben
durchgeführt.
    Jetzt brannten ihm nicht nur die Augen, auch die Nase kribbelte.
Ob er wohl trotz des Kiemenwassers niesen konnte? Oder würde er
so lange würgen und keuchen, bis ihm das widerliche Zeug aus der
Lunge hochstieg, aus allen Körperöffnungen spritzte und an
der Seite des Gasschiffs kleben blieb wie blassblauer Seetang,
während er jämmerlich erstickte?
    Dann trübten ihm die Tränen vollends den Blick.
Nasquerons giftiger Himmel hatte ihm endlich entrissen, was er selbst
nicht hatte ausdrücken können.
    Alle.
    Der ganze Sept.
    Sie waren frühzeitig in den Winterkomplex umgezogen. Dort
hatte die Rakete eingeschlagen und alle getötet: Slovius, Zab,
Verpych, die ganze Familie, die Menschen, mit denen er aufgewachsen
war, die er als Kind und später gekannt und geliebt hatte, die
ihn zu dem gemacht hatten, der er jetzt war oder bis eben noch
gewesen war.
    Es war schnell gegangen. Wirklich nur ein Augenblick, aber was
half ihm das? Sie hatten keinen Schmerz gespürt, aber sie waren
tot, fort, unwiederbringlich verloren.
    Nein, nicht unwiederbringlich. Er konnte nicht aufhören, sich
zu erinnern, konnte nicht aufhören, sie in seinem Kopf
wiederauferstehen zu lassen, und sei es nur, um sie um Verzeihung zu
bitten. Er hatte Slovius empfohlen, das Herbsthaus zu
verlassen. Aber er hatte an einen neutralen Ort gedacht, ein Hotel
oder einen Universitätscampus, stattdessen hatten sie sich
– ein Kompromiss – nur für eine andere
Jahreszeitenresidenz des Sept entschieden. Und das war ihnen zum
Verhängnis geworden. Er hatte sie getötet. Sein
wohlgemeinter Rat, sein Wunsch, die Seinen zu behüten und zu
beschützen und sie wissen zu lassen, dass er an sie gedacht
hatte, hatte sie ihm entrissen.
    Sollte er das Schiff noch weiter nach vorne kippen, über die
Senkrechte hinaus, um sich dann einfach fallen zu lassen?
Hinabgezogen von der eigenen Masse und vom mächtigen Sog der
Gasriesenschwerkraft, die ihm das Kiemenwasser aus den Lungen presste
und vielleicht noch Teile des Gewebes mitnahm. Die ihm gerade noch
erlaubte, seinen blutig geschundenen Körper mit Gas zu
füllen für einen letzten Schrei – mit Falsettstimme,
als hätte er Helium aus einem Luftballon geatmet – bevor es
ihn vollends in Stücke riss und er in die Tiefen
stürzte.
    Die Botschaften waren etwa zu der Zeit eingetroffen, als er durch
die Trümmer von Valseirs Arbeitszimmer schwebte. Die ersten
schockierten Signale, die verstümmelten Anfragen, die
offiziellen Mitteilungen, die Beileidsbekundungen und Hilfsangebote,
die Erkundigungen, gefolgt von Bitten um ein Lebenszeichen, die
Beiträge in den Nachrichten, die geänderten Befehle der
Ocula: alles war in einem einzigen Schwall, einem wirren Datenknoten
über sie hereingebrochen. Die Geheimhaltungspflicht für
alle Korrespondenz der Justitiarität, besonders in Zeiten der
Gefahr, das übliche Chaos im Funkverkehr der Dweller im
Allgemeinen und der Zusammenbruch der sonst reibungslos laufenden
Signalprotokolle im Gefolge des Formalkriegs im Besonderen,

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