Kultur 08: Der Algebraist
verbringen konnte, war fast
verstrichen, er hatte die Diskretion schon längst zum Teufel
gejagt und seine Aktivsensoren auf maximale Leistung hochgefahren
– fand Fassin ein Ende des WolkenTunnels. Es ragte wie ein
riesiges schwarzes Maul aus dem geleedicken Nebel. Er steuerte das
kleine Gasschiff in den vierzig Meter breiten Rachen und drehte seine
Schallsensorik auf, denn jetzt wären die Signale von den
Wänden des WolkenTunnels abgeschirmt. Er steigerte auch seine
Geschwindigkeit und schoss wie der Geist eines längst
verstorbenen Dwellers durch die große, sanft geschwungene
Röhre.
Das Arbeitszimmer war noch da, er fand es, eine Hohlkugel, die die
Röhre fast ganz ausfüllte, ziemlich in der Mitte des
achtzig Kilometer langen WolkenTunnels. Aber es war gründlich
durchwühlt und leer geräumt worden. Irgendjemand hatte
alles weggeholt oder zerstört, was hier an Geheimnissen geruht
haben mochte.
Fassin schaltete einige Lichter ein und sah sich um, aber es war
nichts heil geblieben, es gab nur leere Regale und zerbrochene
Carbonfaserbretter, Diamantstaub lag wie Raureif über allem, und
wo er vorüberkam, wirbelte er Faserreste auf.
Er formte mit seiner Schallsensorik eine kleine Höhle und
sah, wie sie sofort zusammenbrach, erdrückt vom tödlichen
Gewicht der Gassäule darüber. Wer würde hier nicht
unter Beklemmungen leiden?, dachte er. Dann stieg er auf dem
gleichen Weg, den er gekommen war, langsam wieder zum Haus und zur
Bibliothek Einundzwanzig empor.
Der Colonel erwartete ihn. Sie schien überrascht, als er
durch die Geheimtür kam, dabei hatte er ihr gesagt, was er
vorhatte.
»Major. Seher Taak. Fassin«, sagte sie. Es klang…
seltsam.
Fassin sah sich um. Sonst war niemand da. Gut, dachte er.
Laut sagte er: »Ja?«, und ließ die
Bücherschranktür hinter sich zufallen.
Hatherence schwebte auf ihn zu und hielt in einem Meter Abstand
an. Ihr Schutzanzug zeigte ein einheitlich dumpfes Grau, das er noch
nie gesehen hatte.
»Colonel«, fragte er. »Geht es Ihnen gut? Ist
alles…«
»Es ist… Sie müssen sehr tapfer sein…
ich… es tut mir Leid… Fassin, ich habe schlechte
Nachrichten«, stieß sie endlich mit brechender Stimme
hervor. »Sehr schlechte Nachrichten. Es tut mir so
Leid.«
Der Archimandrit Lusiferus wollte sich auf die Ideen der
›Wahrheit‹ nicht wirklich einlassen. Natürlich hatte
er sich im Verlauf seines Aufstiegs durch die Reihen der Cessoria den Anschein gegeben, daran zu glauben, auch war er ein begabter
Verkünder des Evangeliums und ein Disputant, der oftmals
wortgewaltig, mit viel Logik und Leidenschaft für die Kirche und
ihre Ansichten stritt. Das hatte ihm viel Lob eingetragen. Er sah
immer, wenn seine Vorgesetzten beeindruckt waren, auch dann, wenn sie
es ihm oder gar sich selbst gegenüber nicht eingestehen wollten.
Er hatte ein Talent für Streitgespräche. Und er konnte sich
verstellen, konnte lügen (wenn man solch grobe, wenig nuancierte
Begriffe verwenden wollte), konnte so tun, als glaubte er an eine
Sache, während sie ihm bestenfalls gleichgültig war. Es
hatte ihn nie tiefer berührt, ob die ›Wahrheit‹ auch
wirklich die Wahrheit war.
Der Glaube an sich interessierte, ja faszinierte ihn, nicht als
intellektuelle Idee, nicht als Konzept oder als abstraktes System,
sondern als eine Möglichkeit, Menschen zu beherrschen, sie zu
verstehen und dadurch zu manipulieren. Letzten Endes war der Glaube
für ihn eine Schwäche, ein Fehler, den andere hatten, er
aber nicht.
Manchmal konnte er es gar nicht fassen, wie viele Vorteile andere
ihm bereitwillig überließen. Sie hatten den Glauben,
nahmen einfach ungeprüft hin, was man ihnen sagte und taten
deshalb Dinge, die ganz offensichtlich nicht in ihrem eigenen
unmittelbaren (oder oft auch langfristigen) Interesse waren; sie
liebten ihren Nächsten und taten wiederum Dinge, die nicht
unbedingt zu ihrem Vorteil waren; sie hatten sentimentale oder
emotionale Bindungen und ließen sich dadurch einmal mehr zu
Handlungen nötigen, die ihnen sonst niemals in den Sinn gekommen
wären. Und – das hielt er manchmal für das Beste
überhaupt – sie neigten dazu, sich selbst zu täuschen.
Sie hielten sich für tapfer, obwohl sie eigentlich feige waren,
sie bildeten sich ein, selbständig denken zu können, obwohl
das ein krasser Irrtum war, sie waren überzeugt von ihrer
Intelligenz, während sie nur gut darin Warenprüfungen zu
bestehen, oder verwechselten Sentimentalität mit
Anteilnahme.
Wahre Kraft kam
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