Kultur 08: Der Algebraist
zusammengetragen
wurden…«
»Aber wir haben gelernt…«
»Dass ihre Bibliotheken die chaotischsten in der ganzen
Galaxis sind und sie Fremden nur höchst ungern Zugang dazu
gewähren? Das ist richtig, aber trotzdem: sie waren schon eine
friedfertige, zivilisierte und weit verbreitete Spezies, als es Erde
und Sonne noch gar nicht gab. Und was ist die einzige Lektion, was
wir mit Begeisterung von ihnen übernehmen? Macht Jagd auf eure
Kinder?«
»So steht es in deinen Vorlesungsnotizen«, erinnerte ihn
Taince.
Die Dweller waren berüchtigt dafür, dass sie ihre
eigenen Jungen jagten. Die Spezies war in der Mehrheit – der
überwiegenden Mehrheit – aller Gasriesenplaneten der
Galaxis zu finden, und so oft man eine dieser Planeten-Gesellschaften
hinreichend gründlich erforscht hatte, war man darauf
gestoßen, dass die erwachsenen Dweller einzeln oder im Rudel
Jagd auf ihre eigenen Kinder machten. Manchmal nur, wenn sich die
Gelegenheit ergab, aber ebenso oft auch über längere
Zeiträume in gut organisierten Expeditionen. Für die
Dweller war dieses Verhalten ganz natürlich, ein Brauch, den sie
seit Jahrmilliarden pflegten, ein integraler Bestandteil ihrer
Kultur, ohne den sie nicht sie selbst gewesen wären, eine Phase
des Erwachsenwerdens. Wenn sich – selten genug – ein
Dweller die Mühe machte, diese Praxis gegenüber fremden
Schnöseln zu verteidigen, die glaubten, sich darüber
erregen zu müssen, dann erklärte er im Brustton der
Überzeugung, die Jagd auf die Jungen sei einer von vielen
Gründen, warum die Dweller nach so langer Zeit immer noch nicht
ausgestorben wären und sich an diesem harmlosen Spaß
erfreuen könnten.
Schließlich sei nicht nur die Spezies als Ganzes uralt; auch
einzelne Dweller hätten angeblich eine Lebensspanne von
Milliarden von Jahren. Und da selbst die wahrhaft riesigen
Lebensräume in allen Gasriesenplaneten der Galaxis (und nicht
nur hier, wie bisweilen gemunkelt wurde) nicht unendlich seien,
müsste man das Wachstum der Bevölkerung auf irgendeine
Weise in Grenzen halten. Naseweise Spezies von außen –
besonders solche, deren Zivilisationen so kurzlebig waren, dass man
von den ›Schnellen‹ sprach – sollten nicht vergessen,
dass die heutigen Jäger früher ihrerseits gejagt worden
waren, und dass die heutigen Gejagten durchaus die Jäger der
Zukunft werden könnten. Außerdem dauere dieser Abschnitt
höchstens etwas mehr als ein Jahrhundert, und das sei für
jemanden, der beste Aussichten hatte, Hunderte von Jahrmillionen alt
zu werden, nun wirklich eine Bagatelle, kaum der Rede wert.
»Sie spüren keinen Schmerz, Taince«, sagte Fassin.
»Das ist der entscheidende Punkt. Sie können nicht ganz
erfassen, was körperliches Leiden bedeutet. Jedenfalls nicht
emotional.«
»Woran ich nach wie vor zu zweifeln wage. Aber selbst wenn?
Was willst du damit sagen? Dass sie nicht intelligent genug sind, um
seelische Qualen zu empfinden?«
»Selbst seelische Qualen sind nicht wirklich das, was wir
darunter verstehen, wenn es kein physiologisches Äquivalent dazu
gibt, keine körperliche Schablone, an der sich die Seele
orientieren kann, keine Verbindung zwischen den beiden Arten von
Schmerz.«
»Ist das die Theorie des Jahres? Das Einmaleins der
Exo-Ethik?«
Ein mittleres Erdbeben erschütterte die Mulde, in der das
Flugzeug stand, aber sie achteten nicht darauf. Irgendwo hoch
über ihnen schwangen die riesigen Bögen aus schillerndem
Material sachte hin und her.
»Ich will damit nur sagen, dass wir von dieser Zivilisation
sehr viel mehr lernen könnten als nur, unsere Kinder zu
misshandeln.«
»Ich denke, die Dweller gelten gar nicht als Zivilisation im
strengen Sinn?«
»Du meine Güte«, seufzte Fassin.
»Und?«
»Nun ja, das kommt darauf an, wie du Zivilisation definierst.
Die einen halten die Dweller für postzivilisatorisch, weil die
einzelnen Gruppen auf jedem Gasriesen kaum Kontakt zueinander
pflegen. Andere sprechen von einer Diaspora-Zivilisation, was
eigentlich das Gleiche ist, nur etwas vornehmer ausgedrückt.
Wieder andere betrachten die Dweller als degeneriert, ein Beispiel
dafür, wie eine Spezies eine ganze Galaxis erobern und im
letzten Moment doch noch scheitern kann, weil sie einfach keine Lust
mehr hat, weil sie vergessen hat, was eigentlich der Zweck der ganzen
Übung war, weil sie sich plötzlich ihrer Skrupellosigkeit
schämt, weitere Zerstörungen zu vermeiden sucht und es
nicht mehr als recht und billig findet, auch anderen eine Chance
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