Kunst des Feldspiels
schwer an den eigenen Gedanken trug. In der Einsamkeit jenes Septembers
empfand Henry eine eigenartige Verbundenheit mit diesem Melville, den er, wie
alles andere auf dem Campus, das menschlich war oder so aussah, mehrfach
irrtümlich für Mike Schwartz gehalten hatte.
3
–
Thanksgiving war der erste Feiertag, an dem Henry nicht zu
Hause war. Er verbrachte ihn im Speisesaal, wo er neuerdings als Tellerwäscher
arbeitete. Küchenchef Spirodocus war ein harter Brocken, der einem ständig auf
die Finger schaute, aber Henry verdiente dort wesentlich mehr als im
Piggly-Wiggly-Supermarkt in Lankton. Er übernahm die Mittags- und die
Abendschicht, und danach steckte ihm Spirodocus eine fertig geschnittene
Truthahnbrust zu, die er zu Hause in Owens Minikühlschrank packen konnte.
Henry wurde von einer Mischung aus Heimweh und Freude durchflutet,
als er an diesem Abend die Stimmen seiner Eltern hörte; seine Mutter war in der
Küche, sein Vater lag vor dem lautlos gestellten Fernseher im Wohnzimmer, den
Aschenbecher neben sich, und absolvierte halbherzig die empfohlenen Dehnübungen
für seinen Rücken. Henry stellte sich vor, wie sein Vater die aufgestellten
Knie langsam von einer Seite auf die andere rollte. Die Hose rutschte ihm dabei
bis zum Schienbein hoch. Seine Socken waren weiß. Als er sich das Weiß dieser
Socken vorstellte – die furchtbare Klarheit, mit der er sich das vor Augen
führen konnte –, löste sich eine Träne in seinem Augenwinkel.
»Henry.« In der Stimme
seiner Mutter lag keinerlei Thanksgiving-Fröhlichkeit – sie klang verdrießlich,
unheilvoll, ungewohnt. »Deine Schwester hat uns erzählt, dass Owen …«
Er wischte sich die
Träne weg. Er hätte damit rechnen müssen, dass Sophie das ausplaudern würde.
Sophie plauderte immer alles aus. Sie war ebenso scharf darauf, Leute zu
provozieren, besonders ihre Eltern, wie Henry scharf darauf war, sie zu
beschwichtigen.
»… schwul ist.«
Seine Mutter ließ das
Satzende dort hängen. Sein Vater nieste. Henry wartete.
»Dein Vater und ich
fragen uns, warum du uns das nicht erzählt hast.«
»Owen ist ein guter
Mitbewohner«, sagte Henry. »Er ist nett.«
»Ich sage ja nicht,
dass Schwule nicht nett sind. Ich frage mich bloß, ob das für dich die beste Umgebung ist, Liebling. Immerhin schlaft ihr
im selben Raum! Ihr teilt euch ein Badezimmer! Ist dir das nicht unangenehm?«
»Das will ich wohl
hoffen«, sagte sein Vater.
Henry rutschte das Herz
in die Hose. Würden sie ihn zwingen, nach Hause zu kommen? Er wollte nicht nach
Hause. Weil er bisher gänzlich versagt hatte – darin, Freundschaften zu
schließen, gute Noten zu bekommen oder auch nur Mike Schwartz aufzuspüren –,
war sein Unwillen viel größer, als wenn er – so wie dem Anschein nach alle
anderen um ihn herum – die beste Zeit seines Leben gehabt hätte.
»Würden sie dich mit
einem Mädchen zusammenlegen?«, fragte seine Mutter.
»In deinem Alter? Niemals. In tausend Jahren nicht. Warum also tun sie das? Das
verstehe ich nicht.«
Sollte in der Logik
seiner Mutter ein Denkfehler liegen, konnte Henry ihn nicht finden. Würden
seine Eltern verlangen, dass er das Zimmer wechselte? Es wäre furchtbar, mehr
als peinlich, zur Zimmervergabe zu gehen und nach einer neuen Unterkunft zu
fragen – die von der Zimmervergabe würden direkt wissen, warum er fragte, denn
Owen war der denkbar beste Mitbewohner, gepflegt und freundlich und kaum zu
Hause. Der einzige Mitbewohner, der versuchen würde, Owen loszuwerden, war
einer, der Schwule hasste. Das hier war ein richtiges College, ein Hort der
Aufklärung – man konnte hier in Schwierigkeiten geraten, wenn man Menschen
hasste, so stellte Henry es sich zumindest vor. Und er wollte nicht in
Schwierigkeiten geraten und auch keinen neuen Mitbewohner haben.
Seine Mutter räusperte
sich, machte sich bereit für eine weitere Offenbarung.
»Wir haben gehört, er
kauft dir Kleidung.«
Zwei Wochen zuvor, an
einem Samstagmorgen, hatte Henry Tetris gespielt, als Owen und Jason
hereinkamen, Owen ruhig und beschwingt wie immer, Jason übernächtigt und mit
einem großen Pappbecher Kaffee in der Hand. Henry klickte das Tetris-Fenster
weg und öffnete die Seite für den Physik-Kurs. »Hi, Leute«, sagte er. »Was
liegt an?«
»Wir gehen shoppen«,
sagte Owen.
»Ah, cool. Viel Spaß.«
»Das war ein
einschließendes Wir . Zieh dir bitte Schuhe an.«
»Oh, haha, schon gut«,
sagte Henry. »Ich bin kein großer Shopper.«
»Jedenfalls
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