Kurs Minosmond
im ganz wörtlichen Sinn: Die Leser bestimmten den Inhalt ihrer Presse.
Diese Öffentlichkeit nun hatte sich des Unglücksfalls bemächtigt, und das war ungewöhnlich – sonst befaßten sich die Leserbriefe überwiegend mit künstlerischen und handwerklichen Problemen. Diesmal aber waren die Briefe zunächst aus der Nachbarschaft gekommen, tags darauf erschienen sie schon im rayonalen Angebot, am dritten Tag im regionalen, also in ganz Mitteleuropa, und am vierten kontinental. Inzwischen waren es allein in der Region fünfhundert, in den Nachbarregionen nicht viel weniger, und Wenzel hatte mit den Zweiten Gehilfen aller europäischen Regionen vereinbart, daß jeder bei sich diese Briefe aufarbeiten und eine Zusammenfassung an die andern geben sollte. Das war allein schon eine Sisyphusarbeit, aber Wenzel mußte selbstverständlich noch mehr tun – er mußte versuchen, die Frage so aufzubereiten, daß eine soziologische Forschungsgruppe darauf angesetzt werden konnte.
Die meisten Briefe fragten: Wie ist so etwas möglich? Diese allgemeine Fassungslosigkeit bildete den Grundton. Aber nur wenige Briefe beschränkten sich darauf, die meisten enthielten Informationen der Art: Auch bei uns gibt es… Nein, nicht diese Flattermänner, die schienen einmalig zu sein, dem Himmel sei Dank, aber verstiegene Sekten, die man bisher als harmlos eingeschätzt hatte, gab es vielfach, nur daß jetzt sich niemand mehr mit einer vermuteten Harmlosigkeit trösten wollte. Waren die Flattermänner nicht auch für harmlos gehalten worden, bis zu dem Tag, da sie den wahnsinnigen Entschluß faßten, von einem Gipfel zu springen, und den auch in die Tat umsetzten? Was könnte solchen Leuten nicht alles einfallen, wenn sie einen verrückten Gedanken bis ins Absurde verfolgten? Selbst der kindischste Unsinn konnte auf diese Weise gefährlich werden.
Die Schwierigkeit bestand darin, daß die Gesellschaft nichts verbieten konnte, was nicht unmittelbar Menschen bedrohte. Aber waren nicht gerade deshalb in der Stabilen Gesellschaft diese geringfügigen Reste dessen aufbewahrt worden, was früher einmal der Staat war – Ratgeber, Schlichter, Ordner? Gerade deshalb, weil es noch Gefährdung geben konnte? Also mußten sie auch mit diesem Problem fertig werden.
Bisher hatte man sich mit dem Treiben solcher Sekten abgefunden. Sie entstanden und verfielen wieder. Jetzt, da hierbei zum erstenmal Menschen in Gefahr gekommen waren, mußte man an die Sache grundlegend anders herangehen. Wenzel gestand sich ein, daß schon wieder ein konkreter Anlaß vorlag, die Stabilität in Frage zu stellen. Sosehr er sich anfangs gegen diesen Gedanken gewehrt hatte – je mehr Probleme solcher Art sich stellten, um so besorgter wurde er auch in dieser Richtung.
Er hatte sich einige Tage später mit Klara Mannschatz verabredet, um ihr seine Überlegungen vorzutragen und sich beraten zu lassen, wo sie gründlich oder wo sie noch nicht folgerichtig genug waren. Auf dem Weg zu ihr traf er auf eine weitere Folge der Katastrophe, an die er überhaupt nicht gedacht hatte.
Auf der Einfassungsmauer eines Brunnens, vielleicht zwanzig Zentimeter hoch, stand eine Reihe Kinder, sechs waren es, er zählte sie später, die hielten die Arme seitlich gestreckt und schlugen sie auf und ab wie Vögel die Flügel. Dann rief eins: „Los!“, und alle sprangen hinunter. Zwei legten sich dabei lang auf das Pflaster.
„Wir sind jetzt der Rettungswagen!“ riefen zwei andere und kamen wie ein Auto angefahren.
„Wieso“, rief ein Mädchen von denen, die liegengeblieben waren, „wir sind doch tot, da braucht ihr keinen Rettungswagen mehr!“
„Kinder, was macht ihr denn hier?“ fragte Wenzel, obwohl er schon wußte, was die Antwort sein würde.
„Wir spielen Flattermänner!“ – „Das macht Spaß!“ – „Gab’s in Ihrer Kindheit noch nicht, wa?“
Wenzel gestand es später Klara: „Zu meiner Schande muß ich zugeben, ich wußte in dem Augenblick nicht, was zu sagen richtig gewesen wäre!“
„Wahrscheinlich war es das richtigste, gar nichts zu sagen. Doch wir müssen uns Gedanken darüber machen. Wenn die Kinder so etwas spielen, wird die Sache auf gewisse Weise in die Zukunft transportiert. Aber diese Seite der Sache wird vermutlich die letzte sein, der wir uns zuwenden können, weil sie die schwierigste ist. Möchtest du was trinken?“
„Vielleicht nachher, wenn ich fertig bin mit meinem Vortrag, einen Tee. Erst mal“, er zog aus seiner Tasche einen Stoß
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