Kurs Minosmond
Zentralen Speicher ist zwar nicht das einzige, aber doch ein wichtiges Maß für ihre Bedeutung. Die Abforderungen der Vorträge von Esther und Akito und einiger anderer Diskussionsreden liegen in der Größenordnung von Hunderttausenden. Aber die Rede von Ruben Madeira hat bis heute siebzehn Millionen Abforderungen erreicht, also mindestens so viele Menschen haben sie auf ihrem Bildschirm gelesen. Charakteristisch ist die Entwicklung über mehrere Tage: Zu Anfang lag sie mit den anderen Materialien gleichauf, dann aber wuchs die Abforderung von Tag zu Tag sprunghaft. Das ist doch nur so zu erklären, daß jeder, der sie gelesen hatte, einem Dutzend anderer gesagt hat, soundso, da redet einer über die Besiedlung anderer Planeten, mußt du dir unbedingt angucken. Es scheint, daß diese Idee enorme Massen von Menschen erfaßt.“
„Was Sie nicht gedacht hätten“, sagte Ruben, und er hatte Mühe, zu verhindern, daß seine Stimme bebte.
„Was ich nicht gedacht hätte“, bestätigte Sibylle, „was ich aber gerade deshalb so bemerkenswert finde.“
Rückschauend könnte man sagen, daß Paulines und Wenzels Unternehmen mit der Tragödie der Flattermänner in seine kritische Phase getreten war – kritisch, weil dieses Unglück geschehen war, und kritisch auch in dem Sinn, daß keine Zeit mehr verloren werden durfte, daß nun nicht mehr nur das eigene Gewissen, sondern auch die Öffentlichkeit eine schnelle Klärung forderte.
Dabei hatten sie ja genaugenommen auch vorher keine Zeit verloren. Doch gerade jetzt hatten sie schlechtere Voraussetzungen als je zuvor, irgend etwas zu bewerkstelligen. Pauline hatte sich den Arm angebrochen, als sie den letzten Flattermann gerettet hatte. Sie war also krank, aber guter Dinge, nachdem das erste Entsetzen abgeklungen war. Der verletzte Arm, leicht geschient, diente vor ihr selbst als Ausweis ihrer Rettungsaktion, ohne daß sie sich dessen ganz bewußt war.
Wenzel dagegen war tief deprimiert. Er machte sich Vorwürfe, zu sehr auf seine G-Spindeln ausgewesen zu sein; sonst hätte er nämlich Pauline besser zugehört, und ihm wäre der Verdacht auf die Ereignisse, die dann schrecklicherweise folgten, eher und rechtzeitig gekommen. Immer wieder überdachte er das Geschehen, und immer wieder kam er zu dem Ergebnis, daß Pauline – wenigstens sie! – alles getan hatte, das Unglück zu verhindern, daß er aber gerade zu dem Zeitpunkt eintraf, als größere Erfahrung und Voraussicht gebraucht wurden, und versagte.
„Niemand macht dir einen Vorwurf“, sagte Pauline.
„Ebendarum muß ich es selbst tun“, entgegnete Wenzel. „Drei Menschen starben, ihr Tod hätte verhindert werden können, und niemand macht niemandem einen Vorwurf?“
„Aber es hat doch niemand schuld!“ sagte Pauline mit sanftem Nachdruck.
„Nein, nicht im Sinn eines Schlichterspruchs“, stimmte Wenzel beinahe erbittert zu, „aber siehst du denn nicht: Leben ist doch das wichtigste. Dient nicht alles, aber auch alles, was die Menschen tun, dem Ziel, die Lebensspanne zu vergrößern, entweder durch längeres oder durch intensiveres Leben! Und da soll es einfach so hingenommen werden, daß durch eine Folge von Unachtsamkeiten drei Menschen ums Leben kommen!“
„Es wären dreißig gewesen ohne uns“, sagte Pauline leise.
„Fehlt nur noch, daß uns deswegen einer lobt.“
„Was willst du eigentlich?“
„Ich will mindestens, daß wir Minute für Minute und Zusammenhang für Zusammenhang dieses Falls daraufhin untersuchen, wo es Möglichkeiten gegeben hätte, die Katastrophe zu verhindern. Damit wir gerüstet sind.“
Sie taten es. Und da sie gründlich waren und die Entstehung und Entwicklung dieser Sekte einbezogen, kostete das weitere Recherchen und viele Tage Zeit. Die Erkundigungen zog Wenzel ein, teils bei den Opfern, die leichter verletzt davongekommen waren und von denen die meisten wie aus einem bösen Traum erwachten, teils bei ihren Nachbarn, Ärzten, Psychologen und anderen. Am fünften Tag, nachdem sie Stunden um Stunden gearbeitet hatten, sagte Pauline in eine Pause hinein: „Jetzt weiß ich es – du hast Angst.“
„Ja“, sagte Wenzel. „Und du hattest recht mit deiner Prophezeiung, daß wir auf der Spirale jetzt eine Windung höher sind als beim Fall Otto Mohr. Ja, ich habe Angst, was die nächste Windung bringt. Am Anfang hat mir Sorge gemacht, was wir wußten. Jetzt macht mir viel mehr Sorge, was wir nicht wissen.“
„Aber wir sind weiter!“ behauptete
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