Kurs Minosmond
augenblicklichen Lage nicht, da alle seine besorgten Gedanken der Sektenfrage galten.
Pauline berichtete, die Hauptschwierigkeit sei, die persönliche Brücke zu finden, über die man sozusagen gehen müsse, um die entsprechenden nervlich-biochemischen Mechanismen zu erreichen, die das Heilen beschleunigen. Sie habe sie nach einigen Versuchen in bestimmten Farbvorstellungen gefunden; nach den auf die übliche Weise ausgeführten Konzentrationsübungen, die zuletzt auf die zu heilende Stelle zielten, habe sie sich in bestimmter Abfolge wechselnde Farben vorgestellt, und in dem Maße, wie es ihr gelang, sich die feinsten Abstufungen der Farbtöne zu vergegenwärtigen, sei der Heilungsprozeß beeinflußt worden. Und natürlich habe sie auch die G-Spindeln hervorgebracht.
„Dann kannst du also morgen nach Sternenstadt fahren?“
„Solltest du nicht lieber selbst…“
„Ja, lieber schon, aber noch bin ich Zweiter Gehilfe, und das nimmt mir keiner ab. Doch Grüße kannst du bestellen.“
„Das mach ich“, erklärte Pauline, „mit Vehemenz!“
Pauline hatte das langsame Luftschiff gewählt, mit dem üblicherweise Bildungsreisen absolviert wurden, so war sie fast einen ganzen Tag unterwegs und hatte dabei nicht nur das Vergnügen, die überflogene Landschaft ausgiebig betrachten zu können; ihr standen dazu noch die Informationen zur Verfügung, die hier jeder Passagier auf seinen Bildschirm rufen konnte und die vom historischen Werden berichteten. Paulines Sinn für Geschichte, eigentlich nur gespeist von Kostümaufgaben, hatte hier Gelegenheit, sich in den Lücken der Informationen phantasievoll zu betätigen.
Das Luftschiff flog über Kairo nach Nairobi, und schon über Griechenland vergaß sie die anderen Passagiere, die Schulklassen, die Afrika bewundern wollten, die älteren Paare, die noch einmal eine Weltreise unternahmen. Wer mit dem Theater verbunden war, wie hätte den Griechenland gleichgültig lassen können! Für ein Dutzend griechische Stücke hatte sie die Schauspieler eingekleidet, und man glaube ja nicht, daß dabei das Interesse des Kostümbildners auf den Faltenwurf beschränkt gewesen wäre! Sie flogen nicht hoch, und sie konnte sich durchaus einbilden, etwa Orest durch diese Täler streifen zu sehen.
Später, bei Kairo, sah sie die Pyramiden von oben, und kurioserweise fiel ihr Hubert Förster ein, der Historiker in Berlin, der sie so oft beraten hatte, wenn es um historische Kostüme ging. Er war nicht etwa Ägyptologe, er war überhaupt nicht auf eine bestimmte Region festgelegt, denn sein Fach war Historiometrie, er suchte und untersuchte Meßbares in allen Vorzeiten und bei vielen Völkern. Die Pyramiden waren in Paulines Gedächtnis deshalb mit Hubert Förster verbunden, weil er deren Maßverhältnisse in jedem zweiten Gespräch als Beispiel für die Faszination seines Fachs anführte.
Sie dachte also an ihn, und schon der nächste Gedanke, davon ausgelöst, führte viel weiter. Einer seiner Lieblingssätze war: Der Mensch, der eben in die Geschichte eintrat, glich dem heutigen in allen metrischen Proportionen, nur die absolute Größe war geringer. Das galt übrigens auch für das Gehirn – der Jäger der Altsteinzeit hätte durchaus lernen können, Differentialgleichungen zu lösen, wenn er eine dafür geeignete Sprache, eine entsprechende Schulbildung und entsprechende technische Probleme gehabt hätte. – Das nun war keine These, sondern eine in der Übergangsperiode und später in der Harmonisierungsperiode mehrfach praktisch bewiesene Tatsache.
Und dann fiel ihr die Lateralisation ein, die einzige kleine Einschränkung dieser Tatsache; eigentlich keine Einschränkung, sondern eher eine Modifizierung, eine Erscheinung, von der man in der Schule hört und die man wie so vieles wieder vergißt, wenn man nicht direkt damit zu tun hat: daß rationelle und emotional-bildhafte Verarbeitung getrennt voneinander in unterschiedlichen Gehirnhälften stattfinden, normalerweise. Mit Geschichte hatte das insofern zu tun, als über mehrere Etappen hinweg, vom aufkommenden Kapitalismus bis zum Ende der Harmonisierung, das Rationale in der Gehirntätigkeit des Menschen weit überwog – Erziehung, Ausbildung, Umwelt und vor allem die Arbeit als wichtigste Lebenstätigkeit forderten die Unterordnung der Gefühle unter die Gedanken, wenigstens für die überwiegende Mehrheit der Menschen. Erst jetzt, da jeder produktiv Kunst betrieb und die meisten diese Tätigkeit sogar als wichtigste
Weitere Kostenlose Bücher