Kurs Minosmond
Pauline.
„Sind wir wirklich weiter? Haben wir gesicherte Indizien, die in allen Fällen auftreten? Zu Anfang war es das Alter, um die Fünfzig. Bei den Flattermännern sind jüngere und ältere dabeigewesen. Dann haben wir gedacht, die G-Spindeln wären es. Inzwischen ist doch klar, daß die auch auftreten, wo wirklich nicht die Spur von dem zu finden ist, was wir suchen. Also nichts Ungewöhnliches.“
„Wir waren aber auch schon mal soweit zu sagen“, widersprach Pauline, „daß das Gesuchte vielleicht in den gewöhnlichsten Dingen steckt.“
„Und das macht es noch schwieriger.“
„Ja.“ Erst nach einer Weile merkte Wenzel, daß sie nicht mehr miteinander sprachen, und in diesem Augenblick wurde ihm auch dank seinen geschärften Magiersinnen bewußt, daß Pauline in keinem normalen Zustand war. Er sah sie an – sie wirkte außerordentlich konzentriert und hob nur ganz leicht die Augenbrauen zum Zeichen, daß sie seinen Blick wahrgenommen hatte. Wenzel verstand – er sollte sie nicht stören. Vielleicht kommt sie der Sache näher, dachte er und wartete.
Wieder versank er in Gedanken, bis er ihr Lachen hörte, ein kleines, helles, übermütiges Auflachen.
„Was hast du?“ fragte er verwundert und auch mit einer Spur von Ärger, weil ihm Lachen in dieser Situation deplaziert erschien.
„Ich experimentiere“, sagte Pauline. „Morgen kannst du mir den Stirnreifen aufsetzen.“
„Was?“
„Ich probiere die Selbstheilerei aus“, sagte Pauline. „Die Ärzte meinen, es wirkt.“
Wenzel blickte überrascht auf ihren Arm. „Dann wirst du bald fertig damit?“
„Sie schätzen, in acht oder neun Tagen.“
„Sehr gut, dann wirst du an meiner Stelle nach Sternenstadt fahren.“ Und da Pauline sofort widersprechen wollte, fügte er noch hinzu: „Ich kann jetzt nicht weg. Die Öffentlichkeit.“
Die Öffentlichkeit – das waren in erster Linie die Leserbriefe, eine Einrichtung, die aus grauen Tiefen der Geschichte herrührte und ihren Namen beibehalten hatte, wenngleich sich ihre Bedeutung vertausendfacht und ihre Form völlig verändert hatte, was aber eine Folge des ganz und gar veränderten Informationssystems war.
Seit alle Informationen – mit Ausnahme der geschützten Personaldaten – für jeden erreichbar waren, hatte die Presse alten Stils ihre Bedeutung verloren, oder vielmehr, sie hatte eine Bedeutung hinzugewonnen, die sehr schnell die hauptsächliche und dann die einzige Bedeutung wurde: aus der Flut der Information, die ein einzelner nicht mehr überblicken konnte – ja nicht einmal ein Kollektiv, vielleicht nicht einmal die Menschheit als Ganzes –, auf eine einigermaßen zuverlässige Weise das zu filtern, was für den einzelnen wichtig war. Das wurde sonderbarerweise erst möglich durch den einzelnen; als nämlich fast jeder Haushalt mit einem Televisions-Datenanschluß versehen war und meist auch mit einem Schnelldrucker, der Texte aus dem Angebot auf eine Folie druckte, von der man sie wieder löschen konnte, führte das dazu, daß jeder sich seine Tageszeitung aus dem globalen, kontinentalen, regionalen, rayonalen und lokalen Angebot von Nachrichten, Kommentaren, Reportagen und Leserbriefen selbst zusammenstellte.
Selbstverständlich gab es Journalisten und Redaktionen, sie lieferten das Primärangebot auf den fünf Ebenen aus den verschiedensten Lebensbereichen. Dabei blieben Artikel, die oft abgerufen wurden, länger im Angebot, solche, die nicht abgerufen wurden, überlebten den Tag nicht. Eine Ausnahme machten die Leserbriefe. Sie wurden in dem Bereich angeboten, den sie betrafen, und dort mindestens drei Tage lang, wurden sie oft verlangt oder lösten sie weitere Leserbriefe aus, die darauf Bezug nahmen, rückten sie in das Angebot des nächsthöheren Bereichs, also zum Beispiel aus der lokalen in die rayonale Ebene.
Die Leserbriefe waren in den meisten Fällen durchaus keine Briefe im alten Sinn, also auf Papier niedergelegte Texte. Meist waren es – früher hätte man gesagt: Anrufe bei der lokalen Redaktion. Der Text wurde zuerst auf Tonträger festgehalten, oft waren sie auch mit Bild verbunden. Das gesamte System hatte sich so entwickelt, daß diese Leserbriefe nicht nur durch ihren konkreten Gegenstand die öffentliche Meinung bildeten, nachdem es Versammlungen so gut wie gar nicht mehr und Abstimmungen äußerst selten gab, sondern verallgemeinert, durch ihre Thematik auch das Informationssystem steuerten. Ein altes Ideal war verwirklicht worden, und zwar
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