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Kurs Minosmond

Kurs Minosmond

Titel: Kurs Minosmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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verglichen mit der sozusagen normalen Lebensweise im Feudalismus. Auch wenn heute nichts mehr von ihrer Siedlung übrig ist.“
    „Ich wage gar nicht zu fragen, wie Sie das messen“, sagte Wenzel.
    „Für die körperliche Arbeit ist das noch ziemlich einfach“, erklärte der Historiker. „Wir messen die verrichtete physikalische Arbeit, summieren sie über einen Tag und teilen sie durch das Körpergewicht der Person. Die erhaltene Größe nennen wir Wirksamkeit. Das mit dem Körpergewicht ist deshalb wichtig, weil die Leute früher viel kleiner waren. Schwieriger ist das natürlich mit der geistigen Arbeit. Sie ist wieder auf die Person bezogen. Wir teilen, grob gesagt, die Menge der am Tage verarbeiteten Informationen durch die Menge der im Gehirn gespeicherten und erhalten einen Wert zwischen null und eins. Wir nennen ihn Ausschöpfung. Er ist gewiß nicht umfassend, aber er sagt doch etwas aus über die geistige Anstrengung – wenn einer fast alles, was er weiß, anwenden muß, arbeitet er geistig sicherlich angestrengter als einer, der nur einen winzigen Bruchteil seines Wissens und Könnens verwendet.“
    „Aber der geistige Horizont?“
    „Ach, wissen Sie, der geistige Horizont ist ein ziemlich relativer Begriff. Auf das Rationale bezogen, ist er selbstverständlich heute viel weiter als damals. Aber bezogen auf die emotionale Sphäre? Ich habe da meine Zweifel. Und diese Sphäre müssen Sie doch mitrechnen, wenn von Informationsverarbeitung im Gehirn die Rede ist! Bei diesen Leuten waren Ratio und Emotion, Verstand und Gefühl noch eine Einheit, gut, auf niedrigerem Niveau, aber die ging dann im Verlauf der Geschichte notwendigerweise verloren und wird erst jetzt allmählich wiedergewonnen, seit die Kunst mit der Wissenschaft gleichgezogen hat, verstehen Sie, was ich meine? Es war ein notwendiger, unumgänglicher Prozeß, ich benutze gern folgenden Vergleich: Denken Sie sich eine Großstadt der kapitalistischen oder der Übergangsperiode. Schon der Fußgänger muß alle seine Gefühle unterdrücken und seine Aufmerksamkeit der gedanklichen Verarbeitung mehr oder weniger abstrakter Signale zuwenden, sonst kommt er nicht lebend über die Straße. Und was ist erst mit dem Autofahrer, diesem Ideal seiner Zeit? Er darf um keinen Preis an etwas denken, was ihn sehr erfreut oder sehr ärgert, sonst gefährdet er nicht nur sich, sondern auch andere. Und das gilt für das gesamte Leben jener riesigen Zeitspanne vom Ausgang des Feudalismus bis zum Ende der Harmonisierung. Ausbildung und Erziehung, die ganze Struktur des Wissens, ja selbst die in der Familie erlernten Reaktionen sind darauf ausgerichtet gewesen. Vielleicht ist es das, was Paulchen so interessiert hat an unserer Sache hier. Sie weiß, ich bin der Meinung, daß auf unsere Zeit jetzt eine andere folgt, in der körperliche und geistige Anstrengung wachsen und Riesenwirkungen hervorbringen werden. Allerdings hat das nun nichts mehr mit meiner Wissenschaft zu tun. Oder nur bedingt. Sie wissen sicherlich: In den exaktesten Wissenschaften wird am liebsten gesponnen.“
    Bei den letzten Worten hatte Wenzel doch aufgehorcht. Schade, daß der Historiker gerade diese Gedanken so sehr abgewertet hatte. Er wollte noch etwas fragen, aber Pauline bedankte sich beim Historiker, wies mit dem Kopf zum Eingang des Falthauses und sagte zu Wenzel: „Gehen wir ein bißchen an die Luft?“
    Wenzel, dem es nicht unrecht war, daß Pauline hier die Führung übernahm, folgte ihr.
    Sie setzten sich am Waldrand auf einen geschlagenen und entästeten Baum. Tatsächlich, die Messungen schienen beendet zu sein, niemand arbeitete mehr. Ob das Holz nun hier verkommen würde? Ach Unsinn, gewiß nicht, das hatten die Historiker bestimmt mit den örtlichen Ratgebern und Waldpflegern abgesprochen.
    Wenzel sah Pauline an, die neben ihm saß und in die Sonne blinzelte. „Du hast dich verändert“, sagte er.
    „Ich habe den Mann gefunden“, antwortete sie.
    „Und noch mehr, wie es scheint.“
    „Und noch mehr.“
    „Berichte.“
    „Möchte ich nicht.“
    Zum erstenmal war Wenzel verdutzt und sogar ein bißchen ärgerlich. Wird sie jetzt überheblich?
    „Nein“, sagte Pauline, als hätte er sie das tatsächlich gefragt, „es ist – es ist sehr verrückt. Und wenn du auch daraufkommst, nachdem du alles gesehen und erfahren hast wie ich, dann…“
    „Dann ist es nicht mehr ganz so verrückt?“
    „Ja.“
    Wenzel überlegte. Ja, sie hatte recht. Nein, sie hatte nicht recht,

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