Kurs Minosmond
Einzelprobleme, wenn man glaubte, irgendwo einen gemeinsamen Nenner gefunden zu haben. Und diese Besorgnis lag leider genau auf der Linie, vor der Wenzel selbst wie fast alle, denen er sie angedeutet hatte, zurückschreckten, sie betraf die Infragestellung der Stabilität.
Es war Hochsommer jetzt, und der Thüringer Wald war nicht gerade menschenleer. Trotzdem traf er auf den letzten drei Kilometern, die er durch den Wald laufen mußte, niemanden. Ohne das hin und wieder aufleuchtende blaue H an Bäumen am Rande des Pfads hätte er den Weg vielleicht gar nicht gefunden. Die letzten fünfhundert Meter aber – ohne Pfad quer durch den Wald – waren einfach zu finden: Er ging dem Schall der Axtschläge nach.
Eine Lichtung im Tal. Leute, die Bäume schlugen, mit richtigen Äxten, ohne Motorsägen, überhaupt ohne Sägen, wie es schien; andere, die die geschlagenen Bäume entlaubten; wieder andere, die daraus ein Blockhaus bauten. Und das alles, obwohl gleich nebenan mehrere moderne Falthäuser um einen hohen Sendemast gruppiert standen.
An Kopf und Armen trugen die Holzfäller, wie Wenzel beim Näherkommen sah, Meßelektroden.
Da erblickte ihn einer und stieß einen Pfiff aus, und schon kam aus einem der Falthäuser Pauline gelaufen, erhitzt und strahlend, und winkte ihm zu.
Als Wenzel in das Falthaus trat, zu dem Pauline ihn geführt hatte, war er doch verblüfft über den Gegensatz: draußen vorzeitliches Handwerkeln, und hier drin eine Computerzentrale mit dem Verwirrspiel ihrer Dutzende von Schirmen, Skalen, Lampen, Tastaturen, die meisten davon in Betrieb.
„Seien Sie willkommen!“ sagte ein älterer Mann, der von seinem Arbeitstisch aufstand und Wenzel die Hand reichte. „Hubert Förster, Geschichtsvermesser!“ stellte er sich vor. „Letzteres ist eine spaßige Übersetzung der richtigen Bezeichnung, was Sie natürlich nicht wissen können.“
Er lächelte so herzlich, daß Wenzel sich animiert fühlte zu sagen: „Ich weiß nicht einmal, was ich hier soll!“
„Ich auch nicht“, sagte der Historiometriker. „Aber das macht nichts – Hauptsache, Paulchen weiß es!“
„Ich möchte“, sagte Pauline, „daß Sie uns erklären, was Sie hier machen, und ich verspreche mir Aufschlüsse davon für unser Thema.“
„Ich hoffe, wir nehmen Sie nicht über Gebühr in Anspruch“, fügte Wenzel etwas steif hinzu.
„Keine Bange“, der Historiker lachte, „wir haben gern Gäste; hier allerdings nicht oft. Aber trotzdem – die Menschen können gar nicht genug über ihre Geschichte wissen. Wie fang ich’s an? Vielleicht so: Die Geschichtsschreibung hat uns aus weit zurückliegenden Epochen nur überliefert, was die Herrschenden gedacht und getan haben, denn sie wurde ja von den Herrschenden oder in ihrem Auftrag geschrieben. Nun haben aber doch in Wirklichkeit die arbeitenden Klassen die Geschichte gemacht, die Sklaven, die Leibeigenen, Bauern, Handwerker und schließlich die Arbeiter. Wir können ihre Leistungen nur indirekt aus den Handlungen und Gedanken der Herrschenden ableiten. Ausnahmen gibt es gewiß, hier und da hat schon mal einer aufgeschrieben, was die Unteren getan haben, aber dann meistens mehr, was sie gelitten haben. Man kann aber diese wenigen Zeugnisse nicht bedenkenlos verallgemeinern. Dann gibt es noch stumme Zeugen: Geräte, Produkte und Beschreibungen von Verfahren. Außerdem haben wir die Verallgemeinerungen: Gesellschaftswissenschaften, Anthropologie. Und wir haben die phantasievollen Zeugnisse: Werke der Kunst und Literatur – selten direkt von den Betroffenen und meist aus einem gewissen historischen Abstand gestaltet, der aber immer noch kleiner war als unserer. Das sind, sozusagen, unsere Quellen, wenigstens die hauptsächlichen.
Was wir nun betreiben, ist: diese Quellen soweit wie möglich ausschöpfen, um meßbare Ergebnisse herauszupräparieren, die die Leistungen der Arbeitenden beschreiben, und zwar die physischen und die psychischen – dies alles zunächst an ein paar ausgewählten Punkten der Geschichte. Wir hier versuchen, das erste Jahr einer Rodegemeinschaft vor etwa tausend Jahren zu rekonstruieren, die genau hier gelebt, den Wald gerodet, Äcker angelegt und Häuser gebaut hat.
Wir haben in diesem Fall glänzende Voraussetzungen: Aus alten Urkunden und Aufzeichnungen des Klosters Fulda kennen wir die Zahl der Siedler und ihrer Kinder, ferner, was sie an Saatgut und Vieh vom Kloster vorgeschossen bekamen und wieviel sie als Zehnten ablieferten. Aus anderen
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