Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
für mich behalten.«
In Corinnas Augen loderte die Wut. »Ich habe es geahnt!«
Wiebke nickte. »Seitdem steckten die Nadeln in meiner Handtasche. Aber die wurde mir dann ja gestohlen. Von jemandem, der mich vorher mit der Signora im Vorratsraum von Käptens Kajüte eingesperrt hat.« Wiebke nickte mit dem Kinn zu Corinna. »Sie waren das!«
Mamma Carlottas Lebensgeister kehrten zurück. »Aber Frau Matteuer war es doch, die uns befreit hat!«
»Scheinheilige Mörderin«, stieß Wiebke als Antwort hervor. »Sie hat uns befreit, nachdem sie die Nadeln gefunden hatte. Seitdem will sie mich beseitigen. Weil ich von der Affäre ihres Mannes wusste. Und ich Idiot falle auf sie herein! Ich habe tatsächlich geglaubt, dass ein Arbeiter vom Gosch-Bau meine Tasche gefunden hat. Ich dachte, so bekomme ich wenigstens meine Papiere zurück.«
Mamma Carlotta war verwirrt. Irgendetwas stimmte nicht mit dem überein, was sich in ihren Gedanken und Überzeugungen eingenistet hatte. »Wer hat denn nun Dennis Happe umgebracht?«
»Sie natürlich!«, schrie Wiebke und zeigte auf Corinna Matteuer.
»Warum hätte ich das tun sollen?«, schrie Corinna zurück. »Wenn Sie so viel von mir wissen … dann kennen Sie vielleicht auch mein Motiv?«
Mamma Carlotta spürte, dass Wiebke schwankend wurde. Aber auch Corinna schien sich ihrer Sache nicht sicher zu sein. Sie verteidigte sich nicht blindwütig, wie Mamma Carlotta erwartet hatte, sie entlockte Wiebke Stück für Stück deren Wissen, um erst dann zu entscheiden, wie sie darauf reagieren wollte. Was hatte das zu bedeuten? Vor wem musste sie hier eigentlich Angst haben?
Plötzlich fiel ihr etwas ein. »Und warum waren Sie in Dennis Happes Wohnung? Beide?« Wiebke und Corinna sahen sich an und schwiegen. »Haben Sie mich etwa beide belogen?«, setzte Mamma Carlotta nach.
Sie machte eine ärgerliche Handbewegung, weil eine Italienerin nicht anders konnte als zu gestikulieren, wenn man ihr ein X für ein U vormachen wollte. Dass sie dabei ihren Halt gefährdete, merkte sie erst, als es zu spät war. In dem winzigen Moment, in dem sie den Stahlträger losgelassen hatte, wurde sie von einer Bö erfasst. Sie schwankte, suchte Halt, klammerte sich fest, auch der Stahlpfosten wankte … und dann sah sie, dass das Brett, auf dem Wiebke stand, das Brett, auf dem sie selbst noch vor Kurzem gestanden hatte, in Bewegung geriet. Der Stahlträger hatte sich nun vollends aus dem Gemäuer gelöst, das Gerüstbrett verlor seinen Halt, und mit ihm stürzte Wiebke in die Tiefe …
E rik griff entsetzt nach Sörens Arm. »Das Gerüst bricht zusammen!« Er sprang auf und vergaß alle Vorsicht. »Wiebke!«, schrie er, so laut er konnte, als wäre es möglich, sie damit noch rechtzeitig aufzufangen.
Und tatsächlich! Als hätte es sich von seinem Schrei und seiner Angst erbarmen lassen, fand das Gerüstbrett eine Etage tiefer einen Widerstand, ein weiteres Gerüstbrett, das ein wenig breiter war, fing es auf und nahm dem Sturz seine Kraft. Ganz aufhalten konnte es ihn jedoch nicht. Langsam kippte das Brett zur Seite, Wiebke klammerte sich erschrocken an einer Stahlstrebe fest und musste den Halt unter ihren Füßen verloren geben, als das Brett kurz darauf unter ihr in einer Staubwolke zu Boden fiel.
Wiebke versuchte verzweifelt, mit den Beinen irgendwo Halt zu finden. Schließlich schaffte sie es, sich auf eine Querverstrebung zu stellen, auf der kurz zuvor noch das breite Gerüstbrett gelegen hatte. Doch der Weg ins Gebäude zurück war zu weit, eine Fensteröffnung war ihr zwar nah, aber die Entfernung mit einem Schritt nicht zu überwinden. Sie hockte auf einem Gestänge, das sich im Sturm bog und sich immer wieder von der Sicherheit der Wände entfernte. Jedes Mal ein bisschen mehr, ein bisschen weiter.
Wiebke schrie. Sie legte den Kopf in den Nacken und schrie in den Himmel. Dass Erik angelaufen kam und ihren Namen rief, bemerkte sie nicht. Womöglich war es besser so, dachte Erik, während er auf sie zu lief. Das hätte ihr womöglich eine Hoffnung gegeben, die er nicht erfüllen konnte. Und er mochte sich ihre Enttäuschung nicht vorstellen, wenn sie erkennen musste, dass er sie nicht retten konnte, dass er nur hilflos mit ansehen musste, was mit ihr geschah. Zeuge sein, wie sie abstürzte? Oh, Gott! Er stöhnte leise.
»Wann kommt endlich die Feuerwehr!«, keuchte er.
Sören blieb an seiner Seite. Er wäre schneller gewesen, wenn er gewollt hätte, aber es machte keinen Sinn, sich zu
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