Kurschattenerbe
Mit geröteten Wangen stand die Kleine da und versuchte gerade, einen mit Wein gefüllten Krug zu stemmen. »Na, wart no a bissl, bis die Gäscht kemmen.« Martha blickte liebevoll auf das Mädchen. Eine Schönheit war sie zwar nicht – die flachsblonden Haare hingen ihr strähnig auf die Schultern und die Krankenkassenbrille schmeichelte ihr auch nicht gerade. Dafür war die Gitsch 1 tüchtig. Erst zwölf Jahre alt und half bereits überall mit. Aus der würde was werden, da war sich Martha sicher.
*
Eine andere Mutter betrachtete ihre Tochter gerade weniger wohlwollend. Kateryna Maximowa saß im Fonds des Wagens, der sie zum Schloss Tirol brachte. Neben ihr hatte sich die 13-jährige Sascha in den Sitz gelümmelt. Man sah ihr den Widerwillen deutlich an. So sehr Kateryna dazu tendierte, ihre Tochter zu verwöhnen und ihr ihren Willen zu lassen – hatte sie diesmal darauf bestanden, dass das Mädchen sie zur heutigen Soirée begleitete. Sie wollte sie nicht der Obhut von Victor und Juri überlassen, der beiden Bodyguards, die sie auf Wunsch ihres Managers und Vertrauten Tony Perathoner engagiert hatte.
Sie müsse der Tatsache, dass sie als Millionärin Personenschutz benötige, endlich ins Auge sehen, hatte Tony wiederholt gesagt. Bis sie ihm schließlich nachgegeben hatte. Daraufhin war er mit Victor und Juri, zwei ehemaligen Olympioniken aus der Ukraine, aufgetaucht, mit denen er bereits während seiner Zeit in Hollywood zusammengearbeitet hatte.
Sie seien absolut zuverlässig, zu ihnen habe er vollstes Vertrauen, hatte er gemeint, und Kateryna hatte ihn gewähren lassen. Sie war nach wie vor überzeugt, dass sie keine Leibwächter nötig hatte. Zumindest konnten sie ein Auge auf Sascha haben, die ein wahrer Wildfang war und sich ständig irgendwo herumtrieb.
Mittlerweile zweifelte Kateryna allerdings an der Fähigkeit der beiden Bodyguards. Sie hatten in erster Linie ihren Sport im Kopf und wollten unbedingt am Wildwasserwettbewerb teilnehmen, der nächstes Wochenende in Meran stattfand. Jede freie Minute nutzten sie, um zu trainieren. Und Sascha verschaffte ihnen genug Freizeit, indem sie die beiden ständig an der Nase herumführte, sie gegeneinander ausspielte und ihnen auf diese Art immer wieder entwischte.
Kateryna hatte das Treiben ihrer Tochter sehr wohl bemerkt. Sie scheute sich jedoch, Saschas Freiheitsdrang allzu sehr einzuschränken. Daher weigerte sie sich auch konsequent, eine Erzieherin für Sascha einzustellen, wie dies in ihren Kreisen üblich war. Immerhin hatte Kateryna die Lehramtsprüfung gemacht und ein paar Jahre unterrichtet. Sie wusste am besten, wie man mit jungen Menschen umging. Aus diesem Grund kam ihr eine Nanny nicht ins Haus, denn sie konnte es selbst nicht leiden, wenn man ihr Vorschriften machte, wie sie sich zu verhalten hatte. Wozu hatte sie denn das ganze Geld erworben, wenn sie es nicht genießen konnte und auf ihre Sicherheit bedacht sein musste?
Kateryna lehnte sich in den Sitzpolster zurück. Neben ihr sah Sascha missmutig aus dem Wagenfenster. Wenigstens mit ihrer Kleidung hätte sie sich ein wenig Mühe geben können. Wie sah ihre Tochter denn aus? Eine fadenscheinige und ausgebleichte Jeans, die ihr zu weit war, darüber ebenfalls ein viel zu weites T-Shirt in einer scheußlich grellen Farbe. Dazu der kurze, dunkelblonde Lockenschopf, über den sie eine Basecap gestülpt hatte.
Die Kleine legte es darauf an, wie ein Bub auszusehen. Dabei war sie so ein hübsches Kind, fast ein Teenager. Doch von Schminke, Stöckelschuhen und Jungen, wie das bei ihren Altersgenossinnen gang und gäbe war, wollte Sascha absolut nichts wissen. Das Einzige, was sie interessierte, war ihr Fahrrad. Ob zu Haus im südrussischen Sotschi, wo Kateryna, nachdem sie die Ukraine verlassen hatte, seit ein paar Jahren wohnte, oder hier in Meran: Ständig sauste sie mit dem Rad durch die Gegend. Was es ihr natürlich besonders leicht machte, Victor und Juri, die mit dem Auto unterwegs waren, abzuhängen.
Vielleicht sollte sie die beiden auch mit Fahrrädern ausrüsten. Das wäre gar keine so schlechte Idee. Sie könnten endlich besser auf Sascha aufpassen. Obwohl die beiden es sicher unter ihrer Würde betrachteten, von ihrem Mietwagen auf Fahrräder umzusteigen. Sie würde das mit Tony besprechen.
Kateryna nahm eine Bewegung wahr: Sascha geruhte endlich, den bisher starr zum Fenster gewandten Kopf in die Richtung ihrer Mutter zu drehen. »Wird Tony heute Abend auch da
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