Kurschattenerbe
kannst deine Geige ein für alle Mal einpacken.« Damit erhob sich Clara, machte einen letzten vergeblichen Versuch, ihr Kleid über dem Bauch glatt zu streichen, und folgte Tobias. Der hatte gerade das Zeichen zum Auftritt gegeben. Viola nahm ihre Vielle und folgte den anderen durch die Kapellentür. Sie würden sie kennenlernen. Wenn es sein musste, konnte sie auch andere Saiten aufziehen.
*
Ein hoher, scharfer Ton ließ Jenny zusammenzucken. Gleich darauf vernahm sie ein Schnarren, das ihr Gänsehaut verursachte. Die Musiker hatten ihre Plätze auf der Bühne eingenommen und stimmten ihre Instrumente. Sie fragte sich, warum es nicht möglich war, dies vor dem Auftritt zu erledigen? Wahrscheinlich gehörte es zur Show. Das Publikum sollte ruhig sehen und vor allem hören, wie sich die Musiker Dompteuren gleich über ihre scheinbar wild gewordenen Instrumente hermachten, bis diese schließlich gezähmt waren und die lieblichsten Klänge verströmten.
Jenny sah sich im Raum um. Von ihrem Sitz im Seitenflügel des Rittersaales war die Sicht auf die Bühne wegen eines Stützpfeilers etwas beeinträchtigt. Dafür hatte sie die Sitzreihen im Mittelteil des Saales umso besser im Blickfeld. Ganz vorn in der ersten Reihe saßen Arthur Kammelbach und Maurice Jungmann. Die Professoren hätten, obwohl beide zwischen Mitte und Ende 50 und damit an Jahren fast gleich, nicht unterschiedlicher sein können. Arthur, groß und stattlich, sah man sein Alter allein aufgrund der stahlgrauen Haare, die er sich gerade wieder mit der für ihn typischen Geste in die Stirn strich, an. Wie immer war er trotz des heutigen festlichen Anlasses mit seinem rot-weiß karierten Hemd und dem etwas speckigen Ledersakko nachlässig gekleidet.
Daneben Maurice Jungmann: Kleiner als Arthur, dafür schlank, drahtig und gut trainiert. Jenny hatte, nachdem er sich beim Hineingehen sein Sakko aus feinem Tuch ausgezogen und um die Schultern gelegt hatte, die Muskeln unter dem zweifellos maßgeschneiderten blassrosa Hemd hervortreten sehen. Um den Hals trug er eine fliederfarbene Seidenkrawatte, aus der Brusttasche seines Jacketts lugte ein Stecktuch im passenden Farbton.
Der Mann legte Wert auf sein Äußeres und sah blendend aus. Braungebrannte, markante Gesichtszüge und dunkelblonde, mit hellen Glanzlichtern gesprenkelte Haare, die er etwas länger hinter das Ohr gekämmt trug, unterstrichen seine gepflegte und zugleich jugendliche Erscheinung. Mit übereinandergeschlagenen Beinen und geschlossenen Augen saß er da und wiegte den Kopf wie selbstvergessen zu den Klängen der Musik, die nun in voller Pracht den Raum erfüllte.
»Ist Platz?« Ein hochaufgeschossenes Mädchen mit einer Basecap auf dem Kopf stand vor Jenny und deutete auf den freien Sitz neben ihr. Mit einem knappen Nicken beantwortete sie die Frage. Der Teenager setzte sich. War das nicht die Tochter von Kateryna Maximowa, alte Bekannte von Arthur und großzügige Sponsorin des Symposiums? Heute Nachmittag hatte sie mit der Ukrainerin und Arthur die morgige Pressekonferenz besprochen. Das Kind war wie aus dem Nichts aufgetaucht. ›Meine Tochter Sascha‹, hatte die Mutter sie vorgestellt. Jenny ließ ihren Blick schweifen, um nach Kateryna Ausschau zu halten. In der Mitte der ersten Reihe entdeckte sie die auffallende Erscheinung der Ukrainerin neben einer streng aussehenden Dame im biederen Kostüm. Das musste die Vizequästorin sein, die oberste Polizeibeamtin der Region. Arthur hatte deren Kommen zum heutigen Konzert angekündigt.
Jenny unterdrückte ein Grinsen. Das war typisch für die Gegend. Wenn in Wien ein hoher Polizeibeamter in offizieller Mission an einer Veranstaltung teilnahm, tat er das, um zu ermitteln. Hier dagegen spielte der Vizequästor oder in dem Fall die Vizequästorin auch eine gesellschaftliche Rolle. Nur so war deren heutiges Erscheinen erklärbar. Oder hegte sie etwa einen Verdacht gegen einen der hier Anwesenden?
Plötzlich war Jenny nicht mehr zum Lachen zumute. Sie erinnerte sich an ihren letzten Aufenthalt in Südtirol, wo sie auf Einladung von Arthur an einer Forschungsreise auf die Burg Runkelstein bei Bozen teilgenommen hatte. Damals hatte sie aufgrund der Ereignisse unliebsame Bekanntschaft mit der Polizei gemacht. Das wollte sie nicht noch einmal erleben. Die Erinnerungen genügten ihr.
»Sie hören ein Liebeslied, das Oswald für seine Frau Margareta geschrieben hat. Anschließend verabschieden wir uns mit seiner großen Lebensbeichte ›Es fügt
Weitere Kostenlose Bücher