Kurz bevor dem Morgen graut
jemals geträumt hatte, wurden zum Forum des längsten Traumes, in dem er je gewesen war.
Mehr und mehr begriff er, dass es sein letzter Traum war. Er musste durch die Medikamente ins Koma gefallen sein, das war die einzig logische Erklärung. Wenn dem so war, konnte er ewig träumen. Eigentlich war das nicht schlecht. Er befürchtete nur, dass er wieder die Kontrolle verlieren könnte. Schließlich würde sein Gehirn ja nicht mehr so arbeiten wie sonst. Richtig schlimm jedoch wurde es, wenn er starb. Dann würde dieser Traum zerplatzen wie eine Seifenblase.
Er beschloss, diesen letzten Traum zu genießen. Er reiste weiter umher, hatte in jeder Stadt mehrere Mädchen, ein Luxus, den er im richtigen Leben nie erleben durfte.
Die zweite Begegnung mit dem schwarzen Mann traf ihn völlig unvorbereitet. Er erwischte ihn in Moskau, nachdem er gerade den roten Platz überquert hatte. Im Foyer des Kaufhauses GUM sah er ihn auf einer Bank sitzen, unter einem künstlichen Baum mit Herbstlaub. Die Erinnerung an jenen Tag in Paris traf ihn wie ein Schlag und er war versucht, wegzulaufen. Der schwarze Mann aber machte ihm mit der Hand ein Zeichen, dass er sich setzen solle. Er setzte sich zögernd neben ihm auf die Bank und versuchte sich vor Augen zu halten, dass alles nur ein Traum war.
Der schwarze Mann blickte ihn mit kalten, pupillenlosen Augen an. Dann griff er sich an die Nase. Er wartete mit klopfendem Herzen und zitternden Beinen, was passieren würde. Schließlich riss der schwarze Mann an seiner Nase und zog die Haut vom Gesicht. Unter seiner Gesichtshaut lauerte Bettinas totes Antlitz, die Augen aus den Höhlen gerissen, der Mund zahnlos und weit geöffnet.
Diesmal schrie er wirklich. Er fiel rücklings von der Bank und drehte sich, so schnell er konnte. Er wusste, wo er hin wollte. Raus. Nur raus.
Es war der letzte denkbare Zufluchtsort für ihn. Sein Elternhaus, in dem er eine glückliche Kindheit verbracht hatte. Bis auf jenen 29. Oktober 1992. Aber dieser Tag war weit weg.
Er war wieder ein neunjähriger Junge, als er diesen Teil des Traumes betrat. Es war alles wie früher. Er unternahm stundenlange Angelausflüge mit seinem Vater an der Isar, er half seiner Mutter beim Kuchen backen und spielte mit den Nachbarskindern. Sie durchstreiften die Wälder seiner Kindheit und er fasste wieder Hoffnung. Seinem Zeitgefühl nach musste er mindestens zwei Monate dort verbracht haben, aber wer kann das im Traum schon so genau sagen.
Eines Tages waren seine Eltern fort. Das Haus war leer, nicht nur leer von Menschen, sondern auch von allem anderen. Kein Möbelstück war mehr im Haus, kein Teppich, kein Bild an der Wand. Die Fensterscheiben waren zersplittert.
Er ist nicht dumm. Er wusste genau, was das bedeutete. Sein Traum zerbröckelte. Und das bedeutete, dass er zerbröckelte. Er lag im Sterben.
Schluchzend setzte er sich auf den Küchenfußboden und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Sein Traum und sein Leben standen kurz vor ihrem Ende. Er wollte noch eine letzte Reise unternehmen, eine allerletzte.
Amsterdam war herrlich. Die Zeit dort war kurz, aber wunderschön. Er lief die Grachten entlang, besuchte das Rijksmuseum und versuchte in den Coffee Shops seinen Weltschmerz zu betäuben. Es war wohl die sinnloseste Aktion der Welt, in einem Traum, den man unter Medikamenten hatte, auch noch zu kiffen, aber Logik war ihm mittlerweile egal.
Am dritten oder vierten Tag brachen die Brücken über den Grachten. Dann stürzten einige Kanalhäuser ein. Schließlich waren abermals die Menschen um ihn herum verschwunden. Er versuchte den Ort zu wechseln, aber es funktionierte nicht mehr. Am Ende wechselte er sich von selbst.
Er steht noch immer auf der A95, die er seit seinem Verschwinden aus Amsterdam entlang gewandelt ist. Er betrachtet sein zwölfjähriges Ich. Es trägt die hellblaue Windjacke, genau wie an jenem kalten Oktobertag vor zwanzig Jahren. Aber es war nicht nur das Wetter, das damals für die Kälte verantwortlich gewesen war. Es war der kalte Schatten des Todes, der sich auf ihn gelegt hatte.
„Ich hab eigentlich Hausarrest“, rief er Per, dem Nachbarsjungen von seinem Zimmerfenster aus zu.
Per stand unten, viel zu leicht angezogen für den kalten Herbsttag und sah belustigt zu ihm hinauf.
„Was denn?“, meinte Per. „Hat das kleine Baby etwa Angst vor Mami und Papi?“
Per war eigentlich ein widerlicher Kerl. Er war ein halbes Jahr älter, schon dreizehn, und kam sich vor, als
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