Kurz bevor dem Morgen graut
möglich, dass ich sie noch einmal brauchen konnte.
NUR RAUS
Gelb hatten sie ihm besser gefallen. Herbstlich gelbe Blätter haben so etwas Warmes, als wollten sie dir sagen: „Es gibt nicht nur diese kalte Welt hier draußen. Es gibt einen warmen Ort mit einem kuscheligen Sofa und einem lodernden Kamin, an dem du dich aufwärmen kannst.“ Aber die gelben Blätter gibt es nicht mehr. Sie sind hellbraun, trocken und rissig. So rissig und kalt wie die Welt, in der er sich befindet.
Die Ahornbäume rechts und links der Allee sind fast kahl. Ihre restlichen Blätter, hässlich und feindselig, werden von den Stößen des kalten Nordwinds in seine Richtung geweht. Es hat ihn gefunden. Dies ist wohl das Ende seiner Geschichte.
Er geht die leere Autobahn entlang. Es ist die A95 München-Garmisch, kurz nach der Ausfahrt Starnberg. Wie oft hat er sie befahren in den letzten zwölf Jahren? Unzählige Male. Damals sind noch Autos hier gefahren. Nun gibt es gar nichts mehr. Keine Menschen, keine Autos, keine Tiere. Nur noch ihn, die Straße und die Bäume mit ihren leblosen Blättern.
Er sieht ihn auf der Mittellinie stehen, noch ein Stück entfernt. „Ihn“. Es ist keine andere Person. Er ist es selbst. Zwanzig Jahre jünger natürlich, gerade zwölf geworden. Er ist nicht im Mindesten überrascht, sich hier zu sehen. Die toten Blätter haben ihn auf die Idee gebracht. Es ist wieder der 29. Oktober 1992. Der Tag, an dem der Tod zum ersten Mal sein Auge auf ihn geworfen hatte.
Er schließt die Augen. Will er diese letzten Schritte gehen? Es hätte so schön werden können, diese selbst erschaffene Welt, wie Weiler sie ihm versprochen hatte. Wie lange war das her? Sechs Monate? Ein Jahr? Zwei Jahre? Er hat kein Zeitgefühl mehr. Es gibt weder Zeit noch Raum, das ist der Sinn der Sache. Wie lange ist er hier? Schon viel zu lange. Er will nur noch raus. Nur raus.
„Es ist ganz einfach“, sagte Dr. Armin Weiler an jenem schicksalhaften 28. August 2012. „Sie müssen nur schlafen.“
Seine Worte klingen ihm noch in den Ohren. Er wird sie nie vergessen, bis es vorbei ist. Lange kann das nicht mehr dauern.
„Und die Medikamente?“, fragte er. „Keine Nebenwirkungen?“
„Nein, uns sind keine Nebenwirkungen bekannt“, bekräftigte Dr. Weiler, setzte sein süffisantes Grinsen auf und blickte ihn über seine dicke dunkelbraune Hornbrille an.
„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es unbekannte Nebenwirkungen gibt?“ Er war beunruhigt.
„Sehr gering“, versuchte Weiler ihn zu beruhigen. „Ein Restrisiko bleibt natürlich immer, schließlich sind Sie die erste Testperson.“
„Das bereitet mir ein unangenehmes Kribbeln im Bauch“, gestand er zu.
„Das glaube ich Ihnen. Aber ich habe schon viele Testreihen betreut und noch nie ist etwas passiert.“
Rückblickend war das der Moment, in dem er ihn überzeugte. Er fühlte sich geborgen bei ihm. Vor allem aber war es das Gefühl, endlich etwas Sinnvolles im Leben zu tun.
Er war 32 und hatte zwei abgebrochene Studien vorzuweisen, Theaterwissenschaft und Politologie. Er dachte darüber nach, an die Journalistenschule zu gehen, aber die würden ihn vermutlich nicht nehmen. Zusammengefasst musste man sagen: Er hatte sich seinen Platz im Leben noch nicht erarbeitet.
Das war seine Chance. Die Mitgestaltung der Zukunft. Es klang wie ein Traum – ironischerweise ging es auch gerade darum. Das Experiment „Klartraum“. Er hatte schon einige Artikel über Klarträume gelesen und es stetig ausprobiert, schon seit er 16 war. Vor dem Einschlafen hatte er sich schon oft konzentriert, sich den Satz „Ich werde jetzt einen Klartraum haben“ vorgesagt und dann geträumt. Am Anfang war es noch sehr ungeschickt. Kaum machte er sich im Traum bewusst, dass er träumte, wachte er auf. Er brauchte Monate, bis er es schaffte, auch ab diesem Moment weiter zu träumen. Dann wurde es richtig gut. Er war wieder Kind, wenn er es sein wollte und spielte mit seinen Freunden aus der Grundschule. Er fing etwas mit Bettina Kohler, dem hübschesten Mädchen aus seiner Schule an. Faktisch verlor er sogar in einem Klartraum eines Nachts seine Unschuld an Bettina. Das, obwohl sie ihn im richtigen Leben nie eines Blickes gewürdigt hatte und er seine Unschuld erst mit 22 an Tamara Tiller verloren hatte, auf einer Uni-Party. Er begann also, in seinen Träumen zu leben. Das Leben tagsüber war nicht so wichtig, es zog einfach an ihm vorbei. Nachts jedoch war er der König seiner eigenen
Weitere Kostenlose Bücher