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Kurzer Abriss meines Lebens in der mongolischen Steppe

Kurzer Abriss meines Lebens in der mongolischen Steppe

Titel: Kurzer Abriss meines Lebens in der mongolischen Steppe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hulova
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unersättlicher beiger See. Wären rundherum nicht solche Zeichen gewesen, hätte Mama kein so Spektakel gemacht. Auch eine Schale fiel vom Regal. Eine dieser blauen Festtagsschalen.
    An diesem meinem ersten Morgen aber herrschte Ruhe. Nur die orangeroten Ornamente auf der Tür wechselten die Farben und verschmolzen zu Formen. Das machten die Tapetenblumen in der Wohnung im Sansaar nicht. Ich versuchte, in diesen Formen den Mückenkörper aus Dolgormas Gutenachtgeschichte zu entdecken, sah aber stattdessen Mergens starke Pranken und Naras roten Schmollmund.
    Ich strich über mein Gesicht. Es war rau.
    Ich klopfte mir auf den Bauch, ein Hügel weich wie Sulz. Als ich nach einer Fliege schlug, fühlte ich, wie die unbedeckte Haut auf meinen Armen zitterte.
    Ich rieb die klammen Hände auf der Decke und rief mir all die Düfte und Farben in Erinnerung, die ich mir gemerkt hatte. Den Geruch der Haare aller drei Schwestern. Auch den von Magis Haaren. Dann Vaters Geruch, als meine Schwester gestorben war und er nichts tat, als zu trinken, den Geruch meines Blutes, als es zum ersten Mal zwischen meinen Schenkeln hervorbrach, und den Geruch von Benzin und Zedernsamen, der immer in meine Kammer im Diwaadschin wehte, wenn ein Mann fertig war und ich frische Luft durchs Fenster hereinließ.
    Die Farben hob ich mir für später auf, weil draußen Ojuna herumschrie und mir klar war, sie würde sich immer mehr steigern, bis sie mich aus dem Bett gejagt hätte.
    Ich kam sofort auf die zwei Falten über Najmas rechter Braue zu sprechen. Sie wirkte, als überraschte sie das. Ich füllte
meine Schale mit der Morgensuppe und breitete sorgfältig alle gelblichen Talgstückchen, die in ihr waren, auf dem Tisch aus. Falls jemand am Vormittag Hunger kriegen sollte.
    Ojuna sagte dann, ich solle nichts tun, und es war wieder Abend.
    Bevor ich schlafen ging, sprach ich noch mit Najma über dieses Guanz. Wie sie sich das vorstellen würden. Er sagte, ich solle mir keine Sorgen machen. Ich weiß, dass er mit Dolgorma zu den Risunki zwischen den Felsen gegangen war. Möglicherweise dachte er, ich hätte es schon vergessen, doch als er Ojuna heiratete, heiratete er damit auch unsere ganze Familie. Das ist immer so. Als wüsste er das nicht.
    In der Früh stach vom ersten Morgengrauen an die Sonne herunter. Man konnte nicht einmal die Augen zum Himmel heben. Ich nahm ein paar Sachen mit und brach auf, um einige Plätze in der Umgebung zu besichtigen. Was, wenn es wieder von Schlangen wimmelte? Tsetsegma läuft immer überall barfuß herum, als hätte sie keinen Verstand. Sie ist erwachsen und hat noch immer nicht gelernt, auf alte Leute Rücksicht zu nehmen. Sie fliegt herum, gerade dass sie mir den Hocker nicht umstößt.
    Und wieder war Abend.
    Am Morgen erinnerte ich mich an die Farben. Ich spürte die ganze Zeit, dass etwas nicht zu Ende gedacht blieb, kam aber erst am dritten Tag dazu. Die Chadags, Kulans Augen, Mergens Couch in der Küche, mein Bett im Internat, Erkas Deel. Das alles war blau gewesen. Wie der Himmel, der langsam in Stücken herabfiel. Rot war die Farbe von Schartsetsegs zornigen Tagen und Dolgormas Wangen, wenn sie Fieber bekam. Ihre Stirn glühte wie ein Ofen zu Neujahr, und dennoch hatte der Doktor uns heimgeschickt. Und dabei hatte
ich ihm Geld in die Tasche geschoben und ihm eine Flasche zugesteckt. Er ließ sie in seinem weißen Mantel verschwinden und sagte dann trotzdem, er sei voll belegt. Dolgorma hing wie eine erschossene Gemse in meinen Armen. Schlapp und reglos wie vermutlich Mama damals auf dem Rücksitz.
    Ojuna wollte sich den Fehler nie eingestehen. Hätten sie Mama nicht ins Krankenhaus gefahren, hätte sie etliche Winter länger hier verweilen können.
    Sie haben die Seele aus ihr herausgerüttelt.
    Wer auf dem letzten Loch pfeift, braucht kein Autogeratter. Wenn die letzten Worte im Dröhnen eines Motors ersterben, was sollen weitere Generationen sich dann erzählen? Wer wird sich dann für Tsetsegmas und Zulas Kinder wieder die Mückengeschichte ausdenken? Und ohne Stolz auf ihre Ahnen werden sie es zu nichts bringen. Blind wie Milchglas. So sind die Augen der Toten. Grau wie die Betonplatten der Häuser im Sansaar, wie meine Haare, wie es Chirokos Lieblingspferd war, von dem mir Nara erzählte. Grau waren in der Stadt auch die Stände mit der Zeitung Unen.
    An jenem dritten Tag schnitt ich mich in die Hand. Der Kopf dachte über anderes nach, und die Hände erledigten ihre Arbeit mit großem Eifer. Was

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