Kurzschluss
schwindelfrei waren. Sander schätzte die Zahl der Touristen, die sich hier oben tummelten oder auf hartem Fels in die Sonne gelegt hatten, auf mindestens 200. Irgendwie erinnerte ihn dies an ein Stück Strand. Nur dass das Wasser 600 Meter tiefer lag. Zweimal stockte ihm der Atem, als kleine Kinder beim Herumtollen dem Abgrund zu nahe kamen. Waren denn die Eltern von allen guten Geistern verlassen?
Er nahm seine Partnerin am Arm und strebte der sicheren Felsrückwand zu, die hinter ihnen etwa 50 Meter höher aufragte. An ihr gab es auf zwei Steinblöcken noch Plätze zum Sitzen. Sie nahmen ihre Rucksäcke ab, um erst mal einen kräftigen Schluck Mineralwasser zu trinken. In diesem Augenblick wurden sie von den elektronischen Tönen des Handys aufgeschreckt. Tatsächlich, dachte Sander, der Hinweis im Reiseführer, dass es in Norwegen selbst in den entlegensten Gebieten ein Funknetz gebe, schien zu stimmen. Aber wer rief ausgerechnet jetzt an?
51
Häberle und Linkohr hatten inzwischen den Aussichtspunkt vor dem Ödenturm verlassen, um über den Waldweg und durch eine Fichtenschonung zum Standort der SEK-Fahrzeuge zu gehen. »Sie glauben wirklich, wir können die Handynetze lahmlegen?«, fragte Linkohr zweifelnd und sprang über einen quer liegenden Baum.
»Wir haben keine andere Wahl. Wenn es stimmt, dass der Kerl mehrere Geräte hat, deren Nummern wir so schnell nicht rauskriegen, bleibt uns nur dieses übrig«, antwortete Häberle, der sich vor dem Jungkriminalisten seinen Weg durch die Nadelbäume bahnte. »Das LKA wird das hinkriegen«, gab er sich zuversichtlich. Immerhin hatte er während seiner langen Berufslaufbahn mithilfe des Landeskriminalamts schon einiges bewegt. Aber, das musste er sich eingestehen, an einem Sonntagmittag waren die Wege durch das Gestrüpp der Bürokratie sicher nicht gerade einfach. Nachdem der Leitende Oberstaatsanwalt in Ulm, Dr. Wolfgang Ziegler, es jedoch für dringend geboten hielt, dem Geiselnehmer im Ödenturm den Kontakt zur Außenwelt abzustellen, war die Chance groß, dass es klappte. Immerhin hatte Ziegler kraft seines Amtes, aber auch dank seiner Fußballleidenschaft, genügend Beziehungen in die höchsten Ebenen des Justiz- und Innenministeriums.
»Es muss möglich sein, zwei, drei Funkzellen abzuschalten, damit der Kerl kein Netz mehr hat«, sagte Häberle wie zu sich selbst und eilte außer Atem auf die dunkelgrünen Fahrzeuge der Bereitschaftspolizei zu. »Wenn das mit Norwegen stimmt, braucht er einen Kontakt dorthin. Und der muss verhindert werden, bevor es hier zur Sache geht.«
Häberle begrüßte die Männer des SEK mit Handschlag, Linkohr tat es ihm nach.
»Männer«, erklärte der Chefermittler, »uns bleibt keine Zeit zum Verhandeln.« Gemeint war ein psychologisches Gespräch mit dem Geiselnehmer. »Wir schlagen los, sobald das Handynetz weg ist. Dann hat er keine Möglichkeit mehr, seine etwaigen Komplizen zu informieren. Es muss aber Schlag auf Schlag gehen, weil er auch zu uns keinen Kontakt mehr aufnehmen kann.«
»Und wo ist Frau Leichtle?«, fragte Linkohr plötzlich.
Der Einsatzleiter, der über die Vorgeschichte informiert war, gab die Antwort: »Sie steht mit dem Wagen drüben in Weiler. Zwei Kollegen sind bei ihr, auch ein Arzt – vorsorglich.«
Häberle ließ sich zwei Funkgeräte geben. »Nehmen Sie eins«, sagte er zu Linkohr. »Wenn die Funknetze weg sind, brauchen wir das.«
*
Im Lehrsaal des Polizeireviers waren alle Fenster geöffnet. Mehrere Beamte führten hektische Telefonate, andere mühten sich mit dem Versenden von Mails ab. Staatsanwaltschaft, Landespolizeidirektion, Landeskriminalamt, Justizministerium und Innenministerium – sie alle wollten informiert werden. Ein Glück nur, dachte der herbeigeeilte Pressesprecher Uli Stock, dass die Medien von den Ereignissen auf dem Ödenturm keinen Wind bekommen hatten. Das würde noch früh genug geschehen. Vor allem, das stand zu befürchten, würde Sander, sofern er dies alles überlebte, sogar vom fernen Norwegen aus seine Kollegen informieren. Wahrscheinlich war alles nur eine Sache von Minuten, bis das Medienspektakel losbrach. Spätestens wenn bekannt wurde, dass dieser vermeintliche Mord in der Provinz beinahe globale Dimensionen annahm, war ein Medienansturm ohnegleichen zu erwarten. Mit Grausen dachte Stock an den letzten vergleichbar großen Fall, als in Geislingen der Ex-Fußballbundestrainer entführt worden war. Stock, ein großer hagerer Mann, der oft auf einem
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