Kurzschluss
Als Freeclimber waren sie in der Freizeit schon ganz andere Wände hochgeklettert. Dieser Turm bot hingegen mit seinen Buckelquadern geradezu ideale Verhältnisse, diese Art des Kletterns anzuwenden. Außerdem gab es einen Blitzableiter und Fensterläden, an denen sie sich mit Seilen sichern konnten. Einer aus der Gruppe hatte sich bereits seit Jahren gewünscht, den Ödenturm einmal von außen besteigen zu können.
»Aktion startet«, meldete einer in sein umgehängtes Funkgerät.
Rund 300 Meter entfernt lauschte Häberle vor einem Mannschaftswagen höchst angespannt auf die Stimme im Lautsprecher. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sobald die Männer die Hälfte des Turmes erklommen hatten, sollten sie sich melden – denn dann musste der geplante Überraschungseffekt eingeleitet werden. Doch während der Chefermittler noch einmal alles in Gedanken durchspielte, schreckte ihn die Stimme im Funkgerät auf, die seinen Namen rief. Er drückte eine Taste, meldete sich und lauschte der Meldung, die von der Einsatzzentrale kam: »Anruf des Geiselnehmers. Er fragt, für wie dumm wir ihn halten und ob wir so naiv seien zu glauben, er wisse nicht, was vor sich gehe. Er behauptet, das E-Plus-Netz funktioniere – was wohl stimmt, denn sonst könnte er nicht telefonieren.«
Sie waren also gescheitert. Der Kerl hatte sich tatsächlich in ein entferntes Handynetz einloggen können. Nun durfte wirklich nichts mehr schiefgehen.
»Und – hat er noch etwas gesagt?«, nutzte Häberle eine kurze Pause, um die Sprechtaste zu betätigen.
»Hat er«, kam es zögernd zurück. »Er hat gesagt, wenn nicht in fünf Minuten der Mercedes mit Leichtles Frau auftauche, sterbe einer. Und zwar zuerst der in Norwegen und dann der Herr Leichtle. Ob uns dies klar sei, wollte er wissen – und hat hinzugefügt, wir sollen alles abblasen, dann will er mit Leichtle runterkommen und verschwinden. Wir sollen auf keinen Fall vergessen, dass er noch eine zweite Geisel hat.«
Häberle drückte wieder eine Taste. »Wie viel Zeit gibt er uns?«
»Fünf Minuten«, krächzte es aus dem Gerät.
*
Sie hatten ihre Vesperutensilien wieder zusammengepackt. Sander knipste mit zitternden Händen ein paar Fotos von dem Felsplateau und sah auf dem Display seiner Digitalkamera, wie gefährlich nahe manche Menschen am Abgrund standen. Je näher, desto lieber, so schien es ihm. Andere hingegen berichteten offenbar per Handy ihren Gesprächspartnern irgendwo auf der Welt, wo sie sich gerade aufhielten. Sander musste für einen Moment darüber nachdenken, welch fantastische Möglichkeiten die Technologie eröffnete. Man konnte sich mit dem Handy fotografieren lassen und das Foto augenblicklich nach Australien schicken. Wie dankbar kann man doch sein, dies alles erleben zu dürfen, dachte er. Vorausgesetzt, die Segnungen der Technik wurden nicht, wie es in der Vergangenheit meistens geschehen ist, für böse und zweifelhafte Dinge missbraucht.
Dann traf der Zoom einen Mann, dessen Gesicht ihn an irgendjemanden erinnerte. Sander durchzuckte es wie ein Blitz, der seine Nerven traf: Es war der Kerl, der in Bergen aus der Toilette gekommen war. Der Journalist blinzelte über seine Kamera hinweg, um den angezoomten Mann in der Menge ausfindig zu machen. Sekunden später hatte er ihn entdeckt. Er stand nur drei, vier Meter von dem am weitesten hinausragenden Eck des Felsplateaus entfernt zwischen einigen sitzenden Personen. Wild mit einer Hand gestikulierend und mit der anderen das Handy ans Ohr haltend, drehte er sich während seines Gesprächs immer wieder um. Ganz so, als suche er auch nach jemandem.
Doris zupfte Georg an der Hose. »Wir müssen los.«
Sander reagierte nicht. Er konzentrierte sich wieder auf das Display, fuhr den Zoom ganz aus und peilte den Mann an. Dann drückte er viermal auf den Auslöser, doch jedes Mal erbrachte das Bild auf dem Display nicht die gewünschte Schärfe.
Da – plötzlich kam Bewegung in die Menge. Sander nahm es nur im Augenwinkel wahr, denn er hatte sich auf das dargestellte Bild konzentriert. Doris hatte es ebenfalls bemerkt, wollte etwas sagen, doch ihr Mund konnte keine Worte formen. Sander fühlte sich wie gelähmt – genauso unfähig, etwas zu sagen. Auch die meisten Menschen auf dem Plateau schienen für den Bruchteil einer Sekunde fassungslos zu sein. Als ob die Zeit stehen geblieben wäre.
53
Häberle war nach dem Funkgespräch für ein paar Sekunden schweigend neben dem Polizeifahrzeug stehen geblieben. Die
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