Kurzschluss
Jahre leben. Und der Journalist vielleicht auch. Lassen Sie also den Wagen von Frau Leichtle passieren.« Er legte eine kleine Pause ein und fügte mit drohendem Unterton hinzu: »Und kommen Sie nicht auf die Idee, mein Handy abstellen zu lassen. Ich hab noch zwei andere dabei. Bloß, dass Sie das wissen.« Dann beendete er das Gespräch.
Der Chefermittler drückte einige Tasten am Handy, um die angenommenen Anrufe zu checken. Aber weder das jetzige Gespräch noch das gestrige von Sander hatte eine Rufnummer übertragen.
Er gab den Kollegen in der Sonderkommission Bescheid: »Versucht, die Nummer von dem anonymen Anrufer bei euch rauszukriegen – und außerdem müsst ihr sofort diesen Journalisten an die Strippe kriegen, diesen Georg Sander. Irgendjemand bei der Zeitung wird seine Nummer ja griffbereit haben. Ruft ihn an und sagt ihm, er soll sich sofort, egal wo er ist, sofort mit einer Polizeistation in Verbindung setzen und sich in Sicherheit bringen.«
*
Der Hubschrauber mit einem halben Dutzend SEK-Beamten war von Göppingen aus an der Autobahn entlang in Richtung Ulm geflogen, um dann auf dem Sportflugplatz Berneck, oberhalb Bad Ditzenbachs, zwischenzulanden. Von dort aus war der Ödenturm, wenn es schnell gehen musste, in fünf Flugminuten zu erreichen. Die Mannschaftstransportwagen waren von dem kleinen Geislinger Stadtbezirk Weiler aus über einen schmalen Feldweg direkt zum Waldrand gefahren, wo sie weder vom Turm noch von jenem Forstweg gesehen werden konnten, der von der Straße herführte.
Eine Mannschaft sollte sich durchs Unterholz so nah wie möglich an den Turm heranpirschen. Der Einsatzleiter, ein braungebrannter Mann mittleren Alters, scharte die Männer mit ihren Einsatzoveralls um sich. Einige von ihnen mussten Wanderer und Radfahrer anweisen, den Bereich weiträumig zu umgehen.
»Zielperson in der Turmstube«, erklärte der Einsatzleiter. »Der Zugriff soll dort oben erfolgen, weil die Kommunikation mit dem Täter in einer halben Stunde unterbrochen wird.«
»Unterbrochen?«, fragte einer dazwischen. »Wollen Sie einen Störsender fürs Handy herbeischaffen?«
Der Einsatzleiter schüttelte den Kopf und hob eine Augenbraue: »Die schalten die Handynetze rundum komplett ab.«
*
Die Hitze war so drückend, dass Sander mutmaßte, es könnte Südnorwegens heißester Tag des Jahres sein. Der Aufstieg gestaltete sich als äußerst schweißtreibend und nervend, weil sich auf dem engen, steinigen und steilen Pfaden ganze Heerscharen von hektischen Touristen aufwärts kämpften, sich gegenseitig unterhielten, dann wieder schwitzend, keuchend und erschöpft stehen blieben, während Nachfolgende Mühe hatten, an ihnen vorbeizukommen.
Alles andere als eine beschauliche Bergtour, dachte Sander und auch Doris schüttelte mehrmals empört den Kopf über das rücksichtslose Verhalten militanter Wanderer, wie sie sich ausdrückte. Beinahe schien es so, als gehe die Angst um, auf dem Plateau keinen Platz mehr zu ergattern.
Hier in dieser Welt aus Stein und Fels und spärlichem Bewuchs, hoch über dem stillen Wasser eines Fjords, fernab der Zivilisation, aber inmitten von Hunderten von Menschen, die sich prozessionsartig aufwärts bewegten, hatte er zum ersten Mal nach Tagen wieder das Gefühl, geborgen zu sein. Selbst wenn sich unter den vielen Personen jemand befand, der ihn observieren wollte, würde es wohl kaum zu einem Übergriff kommen.
Der mit Farbe gekennzeichnete Pfad führte über ein schräges Plateau, vorbei an schroff aufragenden Wänden, um einen riesigen Felskoloss herum. Atemberaubend lag vor ihnen der Lysefjord in dieser majestätischen Gebirgswelt. Die Menschenschlange kroch den Anstieg hinauf, wo sich der Pfad schmal und abenteuerlich, aber ungefährlich, vollends dem Postkartenmotiv näherte. Nicht einmal ein halbes Fußballfeld maß das Felsplateau des Preikestolens, der an drei Seiten wie abgespalten wirkte und ohne Geländer rund 600 Meter in die Tiefe stürzte. Sander hatte seine Partnerin bereits beim Aufstieg mehrmals gebeten, diesem höllischen Abgrund nicht zu nahe zu treten. Und was auf Fotos zu sehen gewesen war, präsentierte sich hier in der Realität: Touristen robbten an den Abgrund, um auf diese Weise wenigstens einen kurzen Gruselblick in die Tiefe werfen zu können. Doch es gab auch jene Verrückten, wie Sander es empfand, die sich am äußersten Eck auf die Kante setzten und die Beine baumeln ließen. Das beliebte Fotomotiv für alle, die absolut
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