Kurzschluss
drückte, meldete sich sein Handy. Er trat einen Schritt aus dem schwülen Eingangsbereich heraus und zog das Gerät aus der Jackentasche. Am Display erkannte er die Rufnummer der Sonderkommission. »Ja?«, fragte er ungeduldig.
»Wo sind Sie?«
»Vorm verschlossenen Ödenturm – was ist?«
»Anonymer Anrufer. Hat gesagt, er sei in der Turmstube des Ödenturms und man solle ihm ja nicht zu nahe kommen. Er habe zwei Geiseln.«
Häberle spürte seine weichen Knie. Linkohr sah ihn gespannt an.
»Er hat – was?«
»Zwei Geiseln. Eine bei sich im Turm und eine in Norwegen.«
50
Der Weg war weit, verdammt weit. Sander hatte die Entfernung und die Topografie unterschätzt. Sie hatten einen Hang erklommen und geglaubt, dem Preikestolen bereits nahe zu sein. Doch in Wirklichkeit standen sie vor einer dünn mit Nadelhölzern bewachsenen Senke, auf deren schiefer Ebene der felsige Untergrund flache Steinplatten ausbildete. Keiner der umliegenden Höhenzüge ließ auch nur annähernd ein Plateau erkennen, das jenen Fotos glich, auf denen im Reiseführer dieser markante Berg zu sehen war. Dafür kam der Parkplatz in Sicht, der sich zwar in das Gelände einschmiegte, jedoch große Ausmaße zu haben schien. Dominiert wurde er von der Preikestolen-Hütte, wie das mit viel Holz kaschierte große Rasthaus schmeichelhaft genannt wurde. Sander sah bereits aus der Ferne, dass der Andrang auf die Sitzplätze im Freien enorm war. Mehrere Omnibusse ließen erahnen, welcher Touristenrummel auf dem weiteren Weg herrschen würde. Im Reiseführer hatte Sander gelesen, dass sich viele, die nie zuvor eine Hochgebirgstour unternommen hätten, den Anstieg zumuteten. Entsprechend war die Quote derer, die unterwegs zwangsläufig schlappmachten.
Die Sonne knallte herab und rechts in dieser Hochebene spiegelte sich das Blau des Himmels in einer regungslosen Seefläche. Sie orientierten sich an den Wegemarkierungen und erreichten schließlich die Hütte. Gegenüber drängten sich Touristen, die soeben mit einem Bus gekommen waren, in einem Souvenirladen.
Sander sah sich um, doch in dem Ansturm erschien es ihm sinnlos, nach einzelnen Gesichtern Ausschau zu halten. Er schlug vor, sofort den Ausgangspunkt für die Tour zum Felsplateau zu suchen. Dies bedurfte keiner großen Überlegung, denn jenseits der Parkplatzzufahrt formierten sich unablässig Menschen wie zu einer Prozession, die im bewaldeten Hang verschwand. Während sich Sander und seine Partnerin aus dem Gewühle vor dem Souvenirladen entfernten, klingelte irgendwo ein Handy. Er drehte sich unwillkürlich um, doch er konnte niemanden sehen, der telefonierte.
*
Innerhalb weniger Sekunden war das SEK bei der Bereitschaftspolizei im 20 Kilometer entfernten Göppingen alarmiert und ein Hubschrauber der Landespolizeidirektion unterwegs, um einige der Einsatzkräfte in die Nähe des Ödenturms zu bringen.
Häberle, der diese Anweisungen sofort per Handy erteilt hatte, war mit Linkohr bis zur kleinen Aussichtsplattform gegangen, um am Turm zu den Fenstern hochblicken zu können. Keines davon war offen.
Sein Handy übertönte das scheppernde Rauschen eines Güterzugs, der unterhalb des Berges an der Stadt vorbeifuhr. Der Kriminalist meldete sich, ohne die Turmspitze aus den Augen zu lassen, über der eine mächtige Kumuluswolke stand.
»Ich bin es«, sagte die Stimme des Kollegen der Sonderkommission. »Er hat angerufen und Ihre Handynummer gewollt. Er will Sie anrufen, nur damit Sie Bescheid wissen.«
Häberle brummte etwas und erteilte Anweisung: »Sagen Sie der fliegenden Truppe, sie sollen Stand-by gehen, außer Sicht- und Hörweite. Sind die anderen unterwegs?«
»Sind unterwegs. SEK wird in spätestens 20 Minuten oben eintreffen. Ich habe gesagt, sie müssen sich außer Sichtweite zum Turm postieren.«
»Okay.« Häberle beendete das Gespräch. Linkohr versuchte unterdessen, fünf Wanderer zum Weitergehen zu bewegen. Sie zeigten sich einigermaßen mürrisch, doch als ihnen der Kriminalist seinen Dienstausweis vorhielt, kamen sie seiner Forderung nach.
Der Chefermittler war sich ziemlich sicher zu wissen, wer sich in der Turmstube verschanzt hatte. All seine Erkenntnisse der letzten Tage deuteten nur auf diesen einen Mann hin. Die Frage war nur, hatte er tatsächlich eine Geisel genommen – und wenn ja, was würde er für eine Forderung stellen?
Wieder das Handy. Häberle hielt es noch in der Hand, weshalb er sich schnell melden konnte.
»Guten Tag, Herr Kommissar«,
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