Kurzschluss
Männer am Turm hatten inzwischen mehr als die Hälfte ihres Aufstiegs hinter sich. Noch war Wollek nicht auf sie aufmerksam geworden. Häberle hoffte inständig, dass das Klettermanöver keine Schaulustigen anlocken würde. Vorsorglich hatte er von uniformierten Beamten die Wanderwege weiträumig absperren lassen.
Für einen Moment musste Häberle an Sander denken, dem die Aktion gewiss längst aufgefallen wäre.
Er sah auf seine Armbanduhr, nahm Blickkontakt mit dem SEK-Leiter auf und drückte die Taste des Funkgeräts: »Bussard … Starten Sie. Stand-by-Position an der Turmvorderseite.« Seine Stimme verriet innere Unruhe. Schweißtropfen rannen von der Stirn, sein Hemd klebte am Rücken und spannte am Bauch.
»Die machen das schon«, beruhigte der Einsatzleiter aus dem Kombi heraus und deutete mit einer Handbewegung an, dass er jetzt in Sichtweite zum Turm gehen wolle. Häberle nickte zustimmend. Die beiden Männer stapften durchs hohe Gras entlang des Waldrands, um im Schutze der Baumwipfel zu bleiben. Schon lag weit entfernt das Knattern eines Hubschrauberrotors in der Luft. Sie waren also bereits im Anflug.
Häberle nickte einigen SEK-Männern zu, die er im Vorübergehen hinter dicken Bäumen und im dichten Gebüsch bemerkte. Sie hatten lautlos ihre Positionen eingenommen – und nichts schien das Idyll zu stören. Vögel zwitscherten, Hummeln kreisten um Sommerblüten. Doch das Motorengeräusch schwoll langsam an.
Der SEK-Mann vor Häberle stoppte abrupt und deutete durch den letzten Wipfel, der ihnen Deckung bot, nach oben. Sie konnten die geschlossenen Fenster der Turmstube erkennen, die in grelles Sonnenlicht getaucht waren. Hinter einem glaubte Häberle eine Person zu erkennen. Gleichzeitig knackte es leise in den Funkgeräten, die beide Männer umgehängt hatten. »Position erreicht«, meldete eine Männerstimme. Sie gehörte einem der Kletterer. Zwei Sekunden später hob ein gewaltiges Dröhnen und Knattern an. Eine orkanartige Böe fegte über den Wald, dünne Zweige brachen ab, Laub wirbelte durch die Luft. Der Hubschrauber, der offenbar unterhalb der Hangkante kurz in Warteposition gewesen war, schoss wie ein angriffslustiger Riesenvogel über den Baumwipfeln hervor, stieg senkrecht hoch und überflog den Turmhelm. Auf jeder der beiden Kufen stand ein SEK-Beamter. Sie trugen furchterregende Schutzmasken und hatten über ihre Einsatzoveralls ein Klettergeschirr gestreift. Noch klammerten sie sich an einer Strebe fest, doch bevor der Helikopter in der Luft zum Stillstand kam, lösten sie sich von den Kufen und ließen sich an Seilen abwärts gleiten, um zwischen den beiden rückwärtigen Fenstern auf Buckelquadern einen Stand zu finden.
Sie blieben nur eine einzige Sekunde in dieser Position. Sofort streckten sie sich, am Seil gesichert, zum nächsten Fenster, umklammerten den Sims und zerschmetterten ohne zu zögern mit einem metallenen Gegenstand die Scheiben. Noch während Glasscherben durch die Luft geschleudert wurden und feine Splitter an den Buckelquadern entlang nach unten rieselten, zuckte ein gewaltiger Lichtblitz auf, begleitet von einem ohrenbetäubenden Schlag. Wäre es eine echte Explosion gewesen, hätte sich die Turmspitze in ihre Bestandteile aufgelöst. Doch außer Licht, Lärm und Qualm, der aus den Fenstern stieg, war nichts festzustellen.
Die beiden Männer zögerten keine Sekunde. Sie stießen sich mit den Füßen an der Mauer ab, brachten sich, am Seil hängend, zum Schwingen, und landeten mit einem gezielten Sprung durchs Fenster in der vernebelten Turmstube. Elegant wie Raubtiere rollten sie sich ab, blieben auf dem Holzboden liegen und zogen ihre Waffen. Mithilfe der Schutzmasken konnten sie trotz der eingetrübten Luft etwas erkennen und frei atmen.
Die Kletterer, die an der Vorderfront eingedrungen waren, als der Hubschrauber im rückwärtigen Bereich die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, hatten ihre Blendgranaten zum richtigen Zeitpunkt gezündet. Doch wo waren der Täter und die Geisel? Die Männer standen schussbereit im Nebel, der sich langsam verzog. Über ihnen dröhnte noch immer der Rotor des Helikopters, als sich innerhalb des Raumes langsam wieder Konturen abzeichneten.
»Hände hoch, keine Bewegung!«, bellte eine Männerstimme und übertönte den Hubschrauberlärm. Doch die korpulente Gestalt, die abseits eines Fensters zusammengesunken am Boden kauerte, schien kaum in der Lage zu sein, Widerstand zu leisten. Die Polizisten erkannten
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