Kuschelmuschel
Familie noch in jenem großen, hässlichen Haus in South Wales lebte. Damals warst Du mit Deinen fünf Jahren noch ein kleines Kerlchen, und ich war Dein lieber Onkel. Du wirst Dich wohl kaum noch an das junge norwegische Kindermädchen erinnern, das Ihr damals hattet. Sie war eine bemerkenswerte adrette, wohlgestalte Person, die selbst noch in ihrer Uniform mit dem lächerlichen gestärkten weißen Brustlatz, der ihren lieblichen Busen versteckte, exquisite Formen erkennen ließ. An dem Nachmittag, als ich bei Euch war, nahm sie Dich auf einen Spaziergang zum Glockenblumenpflücken mit in den Wald, und ich fragte, ob ich mitkommen dürfe. Als wir schließlich mitten im Wald waren, versprach ich Dir eine Tafel Schokolade, wenn es Dir gelänge, allein den Weg nach Haus zurückzufinden. Und Du hast Dir die Tafel Schokolade verdient (siehe Bd. III). Du warst ein verständiges Kind. So lebt denn wohl. Oswald Hendryks Cornelius.»
Das unerwartete Auftauchen dieser Tagebücher verursachte große Aufregung in meiner Familie, und alles riss sich darum, sie zu lesen. Wir wurden nicht enttäuscht.
Es war eine erstaunliche Lektüre - heiter und vergnüglich, witzig, dramatisch und oft auch ebenso ergreifend. Die Vitalität dieses Mannes war einfach unglaublich. Er war ständig unterwegs, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, von Frau zu Frau, und zwischendurch suchte er Spinnen in Kaschmir oder war in Nanking hinter einer blauen Porzellanvase her. Aber die Frauen kamen immer an erster Stelle. Wo er auch aufkreuzte, überall hinterließ er einen endlosen Schwärm von über die Maßen zerzausten und zerschlagenen Frauen, die aber stets wie die Katzen schnurrten.
An 28 Bänden mit je dreihundert Seiten hat man eine gute Weile zu lesen, und nur sehr wenige Autoren brächten das Kunststück fertig, den Leser über eine solche Strecke hin in Atem zu halten. Aber Oswald schaffte es. Der Erzählstrom verlor nicht einen Augenblick seine Würze, kaum je sein Tempo, und jede einzelne Eintragung, ob lang oder kurz, und einerlei, wovon sie handelte, war fast ausnahmslos eine wunderbare kleine, in sich abgerundete Geschichte. Und wenn man schließlich die letzte Seite des letzten Bandes verschlungen hatte, saß man mit dem ziemlich atemberaubenden Gefühl da, dass hier womöglich eines der gewichtigsten autobiographischen Werke unserer Zeit vorlag.
Selbst wenn man dieses Œuvre nur als die Chronik der amourösen Abenteuer eines Mannes betrachtete, gab es zweifellos nichts, was sich damit hätte messen können. Casanovas Memoiren lasen sich daneben wie ein Kirchenblättchen, und der legendäre Liebhaber selbst wirkte neben Oswald sexuell minderbemittelt.
Aber darüber hinaus enthielt jede Seite gesellschaftliches Dynamit. Darin hatte Oswald vollkommen recht. Sicherlich aber irrte er, wenn er glaubte, die explosiven Reaktionen würden nur von seiten der Frauen kommen. Wie stand es denn mit ihren Männern, den gedemütigten Gehörnten, den Hahnreis? Der Hahnrei, wenn gereizt, ist ein äußerst wütender Vogel, und Hunderte und Aberhunderte würden aus dem Gebüsch aufflattern, falls zu ihren Lebzeiten ans Licht der Öffentlichkeit kämen. Eine Drucklegung kam daher nicht in Betracht.
Es war ein Jammer! Ein solcher Jammer, dass ich darüber nachdachte, ob sich da nicht irgend etwas machen ließ. So las ich denn die Tagebücher noch einmal vom Anfang bis zum Ende durch. Ich hoffte, wenigstens eine in sich abgeschlossene Geschichte zu entdecken, die man drucken und veröffentlichen könnte, ohne dass dadurch der Verleger und ich selbst in ernste Schwierigkeiten gerieten. Zu meiner großen Freude fand ich nicht weniger als sechs solcher Geschichten. Ich zeigte sie einem Anwalt. Er sagte, nach seinem Dafürhalten stelle ihre Veröffentlichung kein Risiko dar, aber eine Garantie könne er mir nicht dafür geben. Eine der Geschichten - erscheine ihm weniger riskant als die anderen fünf, fügte er hinzu.
So habe ich mich denn entschlossen, mit dieser Geschichte einen Anfang zu machen und sie unverzüglich mit meinem kurzen Vorwort hier zur Veröffentlichung anzubieten. Falls sie angenommen und gedruckt wird und alles gut geht, werde ich vielleicht noch zwei oder drei weitere preisgeben.
Die Sinai-Episode findet sich im letzten der Bände, Band XXVIII, und die Eintragung stammt vom 24. August 1946. Genauer gesagt ist es sogar die letzte Eintragung überhaupt,
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