Kuss der Finsternis - Cole, K: Kuss der Finsternis
Papier ganz von allein in Falten legte.
Er straffte die Schultern. Er hasste es, ihr gegenüber so offen sprechen zu müssen. „Sebastian war fuchsteufelswild, nachdem ich ihn gegen seinen Willen gewandelt hatte. Beide waren außer sich vor Wut, weil ich versuchte, vier jüngere Schwestern und unseren alten Vater zu wandeln, die bereits im Sterben lagen.“ Myst biss sich auf die Lippe, während sie ihn beobachtete. Sie wusste, wie widerwillig er über all das sprach. „Ohne jeden Zweifel sind sie nur darum fortgegangen, um ihre Kräfte zu sammeln, dann zurückzukommen und mich zu töten.“ Denn beide hatten genau das versucht, bevor sie gingen.
Sebastian war mit jenem quälenden Hunger erwacht, an den sich Nikolai nur zu gut erinnerte. Als sie Sebastian einen Krug mit Blut vorgesetzt hatten, konnte er ihn gar nicht schnell genug leeren. Aber sobald er begriff, was er getan hatte, war er Nikolai an die Kehle gegange n …
Nikolai hatte monatelang in Blachmount auf ihre Rückkehr gewartet, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, ob sie erneut versuchen würden, ihn zu töten. An jedem Tag, der verstrich, ohne dass sie zurückkamen, hatte er sich gefragt, ob sie wohl für sich selbst sorgen konnten, ob sie jede Nacht genug Blut bekame n – ohne von Menschen zu trinken. Ohne zu töten.
Nïx’ Blick verharrte auf Nikolais Gesicht, während sie einen sich windenden Hai beendete und ihn neben den Drachen stellte. Er konnte nicht ander s – immer wieder wurden seine Augen von den beiden Figuren angezogen.
„Du wusstest, dass sie wütend werden würden?“, fragte Nïx.
„Das wusste ich. Und dennoch habe ich sie gewandelt“, gab er nach kurzem Zögern zu und stieß einen erschöpften Seufzer aus.
Daraufhin begann Myst, Nïx alles zu berichten, was er ihr über seine Brüder erzählt hatte. Nachdem ihm diese Galgenfrist gewährt worden war, rechtfertigte Nikolai noch einmal seine Entscheidung vor sich selbst. In dieser Nacht, als er Sebastian dem Tode nah vor sich sah, war Nikolai erst bewusst geworden, wie viel vor allem Sebastian nun nicht mehr erleben würde. Alles, was er sich gewünscht hatte, waren eine Familie und ein Ort, an dem er in Frieden leben konnte. Sebastian hatte nie die Chance gehabt, auch nur eines von beidem zu bekommen. Er hatte sein Leben noch nicht gelebt und das konnte Nikolai nicht hinnehmen.
Als Junge war Sebastian rasch bis zu seiner vollen Körpergröße von fast zwei Metern aufgeschossen, doch ohne das Gewicht und die Muskeln, die er erst ein oder zwei Jahre später hinzugewonnen hatte. Doch obwohl er schlaksig und ungelenk war, war es Sebastian fast besser ergangen, bevor sein Körper sich an seine Größe angepasst hatte.
Ab diesem Zeitpunkt schien er nicht mehr zu wissen, wie er mit seinem Körper umgehen sollte, mit seiner unglaublichen Stärke, die Tag für Tag zuzunehmen schien. Mehr als einmal hatte er einem Mädchen versehentlich mit dem Ellbogen ein blaues Auge geschlagen und auf diese Weise sogar einem anderen Jungen die Nase gebrochen. Er war so vielen seiner Mitmenschen auf die Zehen getreten, dass die Mädchen im Dorf schon über ihn spotteten, sie würden sich nicht in seine Nähe begeben, ohne „Holzschuhe und eine gehörige Portion Mut“.
Aber das schlimmste Erlebnis war für Sebastian, als er und Murdoch sich im Dorf herumtrieben, wo sie vermutlich irgendeinen Schabernack im Sinn hatten, der auf Murdochs Mist gewachsen war, und Sebastian mit einer Frau und deren Tochter zusammengestoßen war. Er hatte sie beide dermaßen grob umgestoßen, dass ihnen der Atem stockte. Das allein war sicher schon verstörend genug gewesen, doch sobald die Frau und das Mädchen wieder in der Lage waren, Luft zu holen, hatten sie Zeter und Mordio geschrien.
Sebastian war über sich selbst entsetzt gewesen. Von klein auf war er immer ein eher schüchterner Junge, und Vorkommnisse dieser Art machten alles noch viel schlimmer. Fortan war er in der Gegenwart von Frauen zutiefst verunsichert, ohne den lässigen Charme, der Murdoch auszeichnete, oder Conrads Gleichgültigkeit.
Mit dreizehn verfügte Murdoch über ein teuflisches Grinsen, das ihm bereits den Weg unter die Röcke zahlreicher Frauen aus dem Dorf ebnete. Im selben Alter war Sebastian ein stiller Junge mit einem Strauß zerquetschter Wildblumen in der schweißnassen Hand, den die Auserkorene doch nie in Empfang nahm.
Und so hatte er sich seinen Studien gewidmet. Auch wenn es unglaublich erschien: Seit er alt
Weitere Kostenlose Bücher