Kuss der Sünde (German Edition)
zischte. Mit einem Klirren lösten sich die Handfesseln und fielen auf die Pritsche. Olivier rieb über die wund gescheuerten Handg e lenke. Mit allem hatte er gerechnet, doch nicht damit, dass zwei Zwerge in seiner Zelle au f tauchten, eine Flut von Unsinn über ihn ausgossen und wie durch Zaube r hand seine Fesseln lösten. Ohne Scheu packten die beiden s eine Arme und stemmten ihn trotz ihrer geringen Größe mühelos in die Aufrechte.
„Ist das irgendein Scherz?“
„Ich scherze gern , aber dafür bleibt uns jetzt keine Zeit .“ Brioc schob ihn auf die Tür zu. „Adrienne ist ungeduldig.“
„Feen sind immer ungeduldig“, stimmte Maclou zu.
Feen. Nach Monaten in einer kleinen, dunklen Zelle hatte Olivier die A n deutungen von Adrienne längst vergessen und jede jemals geführte Unterha l tung mit Viviane aus seiner Erinnerung verbannt. In der Haft gab es keinen Platz für Märchen und den Zauber eines geheimnisvollen Volkes. Seine be i den kleinen Retter schienen ein weiterer Beweis für die Existenz dieser Welt inmitten der Wälder der Bretagne zu sein. Er ließ sich von ihnen durch schlecht beleuchtete Gänge auf ein Dach führen, ohne dass einer der Wachen auftauchte und sie aufhielt. Von dort aus seilten sie sich zum Boden ab. Als er endlich auf der Straße stand , zitterten seine Arme und Beine vor Anstrengung. Kraftlos sank er an die Hausmauer.
„Ich brauche eine Pause.“
Die kleinen Männer nickten. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte in den Nachthimmel auf. Er war frei, konnte wieder tief durchatmen. Er hätte nicht gedacht, dass es ihn mit so viel Hoffnung erfüllen würde. Außer den zerlumpten, dreckverschmierten Kleidern, die an seinem abgemagerten Kö r per hingen, besaß er nichts, aber er konnte gehen , wohin immer er wollte. Er konnte rennen, springen oder herumhüpfen wie ein Derwisch, ohne Ketten, die bei jeder Bewegung rasselten. Und eines Tages könnte er – ja, er könnte vor Viviane treten. Sobald er wieder er selbst war, sich rasiert und den G e stank der Zelle von seiner Haut gespült hatte. Sie würde ihm verzeihen, wie sie ihm schon einmal verziehen hatte, gleichgültig , was geschehen war und gleic h gültig, dass ein Jahr der Trennung und Ungewissheit zwischen ihnen lag. Ei n fach alles schien ihm möglich. Der Sternenhimmel über ihm war eine glitzer n de Verheißung.
Langsam rollte eine Kutsche heran, gezogen von vier Schimmeln, deren Fell unter den Laternen schimmerte. Ein Gesicht , so weiß wie frisch gefallener Schnee , zeigte sich am Fenster. Adrienne.
„Du bist es wirklich. Ich wollte den beiden nicht glauben. Sie …“ Olivier sah sich um. Brioc und Ma c lou waren verschwunden. „Soeben waren sie noch hier.“
„Jetzt sind sie auf dem Weg nach Hause“, flüsterte Adrienne und öffnete den Schlag. „Auch ich werde dich nach Hause bringen, Olivier. In die Breta g ne.“
Er wich vor dem offenen Schlag zurück. „Nein. Danke für alles Adrienne, aber ich muss zu Viviane.“
Leise lachte sie auf. „Genau. Sie ist in der Bretagne. Bei ihrer Großmutter Claude.“
„Wirklich ?“
Sie nickte. Auf ihren Wink hin stieg er in die Kutsche und setzte sich ihr g e genüber. Die Pferde zogen an. Er vernahm das Geräusch der über das Pflaster fahrenden Räder, doch keinen Hufschlag.
„Wie …?“
Adrienne hinderte ihn daran, aus dem Fenster zu sehen. Sacht berührte sie seinen Unterarm. Licht wirbelte um ihre langen Finger.
„ I ch werde dir alles erklären auf unserer Fahrt. Erwarte nicht zu viel. Für dich und Viviane gibt es keinen Weg in meine Heimat. Vielleicht nicht einmal mehr für mich. Zu lang e war ich fort. Die Pfade haben sich vor mir geschlo s sen.“ Ein melancholisches Lächeln umspielte ihre Lippen. „Aber eines kann ich dir versprechen. Es gab nie einen Fälscher und nie einen Prozess. Ich habe die Prozessakten über dich verschwinden lassen. Bald wirst du vergessen sein. Gemeinsam könnt ihr neu beginnen.“
Stumm erwiderte er ihr Lächeln, legte seine Hand über ihre und drückte zu. Sie war eine Fee, daran bestand kein Zweifel mehr, denn sie erfüllte seinen größten Wunsch.
Ein weiterer Brief von Ninon ließ Viviane Maßnahmen ergreifen. Sie war vorbereitet. Tür und Fenster ihres Zimmers hatte sie geölt, damit sie sich lau t los öffneten. Jede Nacht, seit sie die Neuigkeit erreicht hatte, brannte ein Windlicht auf der Fensterbank. Ihre Wehmut wich einer Erwartung, die sie vor Ungeduld mit den Zähnen knirschen ließ.
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