Kuss der Sünde (German Edition)
ja, Sie lesen richtig – reichte nicht aus, um das Strafmaß in eine Abschiebung in die Kolonien zu wandeln.
Olivier weigert sich aus mir unerfindlichen Gründen, Lazare einen Besuch zu gestatten, und auch ich wurde nur einmal zu ihm vorgelassen. Seitdem wollte er niemanden mehr sehen, und so muss ich mich damit begnügen, ihm auf andere Weise meinen Dank zu erwe i sen. Sie haben keine Vorstellung davon, wie erbärmlich die Mahlzeiten im Gefängnis au s fallen.
Ich wage es nicht, Sie meine Freundin zu nennen, denn zu viel trennt uns, doch möchte ich Ihnen versichern, dass ich alles tun würde, um Ihnen jeden erdenklichen Gefallen zu erweisen. Ich hoffe sehr, Sie sind wohlauf und bei guter Gesundheit. Sie erreichen mich zu jeder Zeit unter der Ihnen bekannten Adresse. Seien Sie versichert, dass ich Ihren Wü n schen jederzeit mit Freuden nachkommen würde. Es wäre eine Ehre für mich, meine Berei t schaft, Ihnen behilflich zu sein, unter Beweis zu stellen. Die Ihre in aufrichtiger Ergebenheit und Verbundenheit.
Ninon Lavassier
Sorgfältig faltete Viviane den Brief zusammen und strich mit dem Daumenn a gel über die Knicke. Sie trat vom Fenster zurück und legte ihn zu den and e ren Briefen, die Ninon im Verlauf der letzten Monate geschickt hatte, um sie über die Geschehnisse in Paris auf dem Laufenden zu halten. Hoffnungslosi g keit war alles, was sie in ihr auslösten. Alles was ihr blieb , war Vergessen, doch diesem verweigerte sie sich. Sie wollte und würde ihn niemals vergessen. Auch wenn er es niemals erfahren würde, denn sie beging nicht den Fehler, ihm Briefe zu schicken, da er selbst auch nichts unternahm, um den Kontakt zu ihr zu suchen. Wenn er der Mann war, für den sie ihn hielt, wusste er es ohnehin. Sie rieb sich über die Augen, sah aus dem Fenster und gedachte der beiden wunderbarsten Wochen ihres Lebens. Ein wehmütiges Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie an die breite Wiege trat und ein Lied zu summen begann.
Ein helles Rechteck erschien am oberen Ende der Zellentür, als die Verrieg e lung vor dem Guckloch laut zurückschnappte. Argwöhnisch richtete Olivier den Blick auf den hellen Fleck in der Finsternis. Es scherte ihn wenig, wer sich mitten in der Nacht an der Gefängniszelle zu schaffen machte. Wahrschei n lich durfte er sich auf weitere Schikanen freuen, von denen sich die Wachen tagtäglich neue ersannen. Für sie kam es einer Mutprobe gleich, den einstmals besten Fälscher von Paris herauszufordern, und es schürte nur ihre Bemühu n gen, dass jede Herausforderung an ihm abglitt. Es gab nichts, was ihn noch treffen konnte.
Am nächsten Tag würde er an die Küste verbracht werden. Durch die ve r gitterten Fenster einer Gefängnisdroschke würde er die Straßenzüge und Hä u ser von Paris ein letztes Mal sehen. Man würde ihn fortbringen, in ein noch engeres, noch dunkleres Loch auf den königlichen Galeeren, wo er auf den Tod warten und niemandem mehr gefährlich werden konnte, indem er anfing, Namen zu nennen. Es war lachhaft, denn im Grunde war er bereits tot, ein schwacher Geist in einer lästigen Hülle, an dem sein Prozess vo rbei gelaufen war, als ginge es um einen Fremden.
Lazare, sein engster Vertrauter, hatte seinen Vater erschossen. Alles hätte Olivier verwunden. Alles, außer dieser einen Tatsache, dass der Mann, den er für einen Freund hielt, seinen Vater ermordet hatte. Von dem Augenblick an, als er es erfuhr, war sein Leben an ihm vorübergezogen , und er hatte gewusst, dass es unaufhaltsam zu diesem Punkt hinführte, an dem er nun angelangt war. Leider war niemand bereit gewesen, die höchste Strafe, die Todesstrafe, über ihn zu verhängen. Aber eventuell machten sie ihm nun den Garaus. Heimlich, still und leise.
„He?“, flüsterte jemand durch das Rechteck. „He, du! Olivier Favre, bist du da drin?“
Die Ketten klirrten, als er die Hände hinter dem Kopf verschränkte. Vor der Zelle mussten sich ausgemachte Idioten eingefunden haben. „Was glaubst du denn, wer sonst hier drin ist, Salaud? Vielleicht dein Schatz, der auf ein Re n dezvous aus ist?“
Unterdrücktes Gelächter erklang. Dann sprach die Männerstimme wieder. „Nur die Ruhe. Wir müssen sichergehen, dass wir den Richtigen vor uns h a ben. Hör mal, kannst du zur Tür kommen?“
Leichter Ärger keimte in ihm auf. Es war die erste Gefühlsregung, die er sich seit L angem erlaubte. Er setzte sich auf. Unter seinen Füßen spü r te er feuchtes Stroh. Seine Ketten klirrten.
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