Kuss der Wölfin 03 - Die Begegnung
dich“, Marinas Stimme senkte sich zu einem Flüstern, obwohl niemand in der Nähe war. „Er ist verloren.“ Doch Raffaelus schüttelte den Kopf, sah zu der jämmerlichen Gestalt hinüber, die sich auf dem Boden krümmte, besudelt von Blut und Schlamm. Immer wieder wie besessen aus der Pfütze trank und mit den Augen rollte, sodass zum Teil nur das Weiße zu erkennen war. Das Wesen, Marcus, kratzte sich die Arme auf, wischte sich über den Mund, zog die Nase hoch. Wasser zeichnete feine Linien in den verkrusteten Schlamm, der auf seiner Haut lag. Marina zog an Raffaelus Arm, doch der schüttelte sie ab.
„Er gehört zu unserem Rudel. Es ist meine Pflicht, ihn zu retten. Ich weiß, es ist nicht einfach, aber vielleicht gelingt es uns …“ Nachdenklich sah er zu Marcus hinüber. Er würde ihn einsperren müssen. Er dürfte kein Fleisch, kein Blut mehr zu sich nehmen, weder menschliches noch tierisches. Raffaelus hatte noch nie einen blutsüchtigen Wolf erlebt, der diese Prozedur überstanden hätte. Letzten Endes mussten sie meistens getötet werden.
„Du kannst ihm nicht mehr helfen. Niemand kann das. Er ist dem Blutrausch verfallen. Siehst du das nicht?“ Raffaelus sah zu Marcus hinüber. Marina hatte Recht. Er war im Blutrausch. Neben ihm lag eine Frauenleiche, aus deren Kehle das Blut in den Matsch sickerte. Marcus schöpfte die rotbraune Masse in seine Hände und kippte sie auf seinem Kopf aus. Die Flüssigkeit lief über sein Gesicht und er leckte sich über die Lippen, schmatzte, stöhnte hingebungsvoll.
„Ich muss es versuchen. So weit kann die Sucht nicht vorangeschritten sein. Erst vor wenigen Wochen habe ich Adam fortgeschickt.“ Beruhigend tätschelte er Marinas Arm. Sie hatte Angst. Sie war schon lange genug auf der Welt, um zu wissen, was aus blutsüchtigen Werwölfen wurde. Einen Wolf, der im Rausch war, zurückzuholen, kostete nicht nur Geduld, sondern auch Mut, und er hatte bislang noch keinen blutsüchtigen Wolf erlebt, der die Sucht besiegt hätte. Sie blickten sich in die Augen und wussten tief im Inneren, dass eine wichtige Entscheidung bevorstand. Entweder musste er Marcus töten oder versuchen, ihn zu retten und dabei sein eigenes Leben riskieren.
„Wie lange sind wir schon zusammen, Marina?“ „Um die fünfhundert Jahre. Du weißt, ich zähle nicht nach.“ Sie fuhr sich ungeduldig durch die Haare. „Es werden noch weitere fünfhundert Jahre werden“, versprach er, strich ihr über die Wange. „Hör auf, Raffaelus. Ich mag keine Gefühlsduseleien.“
Raffaelus strich sich durchs Haar, straffte die Schultern und ging auf die Gestalt zu, die sich im fahlen Mondlicht im Dreck suhlte. Wenn sie Marcus in den Griff bekommen könnten, wäre er eine Bereicherung für das Rudel. Seine Kraft, sein Durchsetzungsvermögen würden das Rudel stärken. Hinter ihm sog Marina zischend Luft ein, er spürte ihre Nervosität.
„Warte!“, hielt sie ihn zurück und griff nach seinem Arm. Raffaelus drehte sich zu ihr und sie zog ihn an sich, legte ihre Lippen auf seine und küsste ihn lange.
Raffaelus trat auf einen Ast, der laut knackend unter seinen Füßen zersprang. Das Geräusch schreckte Marcus hoch. Wie ein wildes Tier blickte er um sich. In seiner menschlichen Gestalt musste er den Wolf mit aller Gewalt zurückgedrängt haben. Auch, dass er auf die Umgebung achtete, war ein Zeichen dafür, dass Marcus nicht verloren war. Also war es noch nicht zu spät. Aber es war allerhöchste Zeit …
„Marcus …“ Raffaelus näherte sich vorsichtig. Der Gestank aus Exkrementen, Blut und Dreck wehte ihm um die Nase. Marcus‘ Augen blitzten weiß aus dem Schmutz hervor. Feindseligkeit lag in ihnen. Seine Körperhaltung ähnelte einem panischen, in die Ecke getriebenen Monster, einem wilden Tier. Das Blut wirkte auf ihn wie ein starkes Rauschmittel. Marcus‘ Sinne waren in höchster Alarmbereitschaft, sein Körper zum Zerreißen angespannt. Nur noch wenige Armeslängen trennten Raffaelus von seinem jungen Gefährten, der weiterhin jeden seiner Schritte taxierte. Als seine Lippen sauber geleckt waren, drehte er den Kopf weg, begann wieder, die stinkende Brühe mit den Händen aufzuschöpfen und davon zu trinken. Dann beugte er den Oberkörper nach hinten, griff sich in die Haare, rieb sich die Augen und kratzte erneut seine Oberarme. Raffaelus richtete seinen Blick auf die tiefen Kratzer, aus denen etwas Blut lief. Ein letzter Schritt und er stand direkt neben ihm, sah auf ihn hinab. Seine
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