Labyrinth der Spiegel
gut! Seine Existenz heißt doch: Wir werden nicht in der Freiheit ertrinken!«
Irgendwie verstehe ich nicht, worauf Dima abzielt.
»Glaubst du vielleicht, mir war klar, was ich da getan habe?«, fährt er fort. »Mit Sicherheit nicht! Ich war besoffen! Sternhagelvoll! Ich habe vor der Kiste gesessen, wollte nicht schlafen und nicht spielen und hatte die Schnauze voll von der Arbeit. Da habe ich einfach die Farbpalette aufgerufen, einen Rhythmus angeklickt … ich wollte das Ganze unbedingt mit Musik unterlegen, dabei hatte meine Kiste nicht mal ’ne Soundkarte!«
Also ist das kein Märchen.
»Keine Ahnung, wie ich das hingekriegt habe!«, schreit Dibenko. »Der Rechner selbst wollte das! Dieses ›Tiefe, Tiefe …‹ lief durch mich hindurch und gelangte in die Welt! Ich habe es gespürt – aber ich habe es nicht geschaffen! Ich bin nur ein Medium, eine Feder, die von einer anderen Hand geführt wurde! Von weit her, durch Stille und Dunkelheit hindurch, griff diese Hand nach mir und zwang mich, das zu tun! Es zu schreiben! Das Deep-Programm!«
Eine Gänsehaut rieselt mir über den ganzen Körper, und zwar nicht, weil Dibenko von der Stille gesprochen hat. Sondern weil auch ich dieses Gefühl kenne. Das Entsetzen desjenigen, der etwas kreiert hat, aber nicht versteht, was und wie.
»Die einen nennen mich Genie …« Der Mann mit den tiefen Schatten unter den Augen greift nach meinen Händen. »… die anderen ein blindes Huhn, das ein Korn gefunden hat! So ein Quatsch! Die Tiefe ist durch mich hindurch in die Welt gekommen. Also hätte sie irgendjemand gebraucht! Vielleicht nicht jetzt … sondern später …«
Dibenko sieht mich mit fiebrigem und triumphierendem Blick an. »Er hat dir doch bestimmt etwas gesagt?«, flüstert er. »Wenigstens eine Andeutung gemacht … woher er kommt? Was ihn von uns trennt? Ein Jahr, hundert, tausend?«
»Dima«, murmele ich. »Wieso glaubst du …«
»Als du geflohen bist …«, flüstert Dibenko. »Du bist in eine Falle geraten, du hättest nicht aus meiner Kiste ausbrechen
können. Aber du hast es geschafft … Hast einfach auf meine Daten zugegriffen und bist abgehauen! Hat er dir das beigebracht, Diver? Ja?«
Ich sehe ihn mitleidig an. Ich habe was gegen Mitleid, es tötet nicht schlechter als Hass, trotzdem muss ich Dibenko bemitleiden.
Wenn da nicht seine Stimme wäre! Die passt nicht. Mit einer solchen Stimme spricht ein exzellenter Schauspieler eine tragische Rolle …
»Du kannst dir nicht vorstellen«, haucht Dibenko, »was ich in diese Aktion investiert habe! Was ich riskiert habe … meine Stellung im Aufsichtsrat von Al Kabar, die Tarnung meiner Agenten im Labyrinth … Du kannst das nicht verstehen, ihr in Russland seid dazu einfach noch nicht in der Lage … Aber jetzt … bist du erledigt! Ich habe deinen Kanal gefunden! Ich weiß, wer du bist! Ich kenne deine Adresse in Deeptown! Die Immobiliengesellschaft Poljana, Wohnung 49. Ich hab dich in der Hand, Leonid! Deine echte Adresse kann ich ohne weiteres auch rauskriegen! Aber ich will dir gar nicht drohen! Ich will dich bitten … mit mir zusammenzuarbeiten!«
Es war, als laufe die Zeit im Kreis, nur dass mir diesmal nicht Guillermo, sondern Dibenko die Hand entgegenstreckt.
»Die anderen blicken überhaupt nicht durch«, wispert er. »Die schwimmen völlig! Außerirdische aus Parallelwelten, Aliens, ein intelligenter Rechner! Pah! Außer uns gibt es nichts und niemanden! In Vergangenheit und Zukunft gibt es nur uns!«
Allmählich schwant mir, worauf er hinauswill.
»Man kann daran glauben, man kann darüber lachen!« Dibenko haut mit der Faust auf den armen Grabstein. »Aber das Einzige, das keine Grenzen hat, ist die Zeit. Das Computernetz lebt und wird leben, die Erinnerung an diesen Jungen wird uns alle überdauern! Für Informationen existieren keine zeitlichen Einschränkungen. Der Loser hat in die Vergangenheit der Menschheit geblickt – von jener herrlichen Zukunft aus, die wir nicht mehr erleben werden. Von der Zukunft der Erde ist er in die Kindheit der virtuellen Welt zurückgekehrt. Von mir aus soll er uns alle für unzivilisiert und ungebildet halten! Trotzdem könnte er uns doch etwas verraten?! Uns … etwas geben, woran wir glauben können …«
»Wie kommst du auf diese Theorie, Dmitri?«
»Ich weiß es einfach!« Dibenko sieht mir unverwandt in die Augen. »Es kann kein Zufall gewesen sein, dass ich das Deep-Programm geschrieben habe! Sonst könntest du auch
Weitere Kostenlose Bücher