Lacunars Fluch, Teil 1: Der Auftrag (German Edition)
Einmischung eines leibhaftigen Sonnenpriesters machte ihn sprach- und bewegungslos.
Jaryn streckte zornig die Hand aus, nur eine Handbreit vom Gesicht des Büttels entfernt. »Kannst du nicht hören?« Der stieß einen erstickten Laut aus und ließ den Jungen fahren, um der Berührung zu entgehen. Der Junge sackte zu Boden. »Ich erlaube dir, mich zu berühren«, sagte Jaryn laut und hob ihn eigenhändig aus dem Straßenstaub auf. Das anschwellende Raunen und Murmeln ringsherum beachtete er nicht.
Der Junge wusste vielleicht nicht, was ein Sonnenpriester war, aber Jaryns vornehme Gestalt übte eine so starke Wirkung auf ihn aus, dass er zitterte wie im Schüttelfrost. Jaryn strich ihm übers Haar. »Keine Angst. Komm, folge mir. Aber bleib fünf Schritte hinter mir, wir müssen die Form wahren.«
Jaryn teilte die Menge wie ein Wirbelsturm das Kornfeld. Der Junge wankte mit schlotternden Knien hinterher. Vor dem Tor des Sonnentempels drehte sich Jaryn zu ihm um. »Warte hier!«
Der Junge ließ sich auf einer steinernen Brüstung nieder und nickte. Jaryn verschwand im Tempel. Nach kurzer Zeit kam er in Begleitung eines jungen Mannes wieder heraus. Er sprach den Jungen, der sich ängstlich in der fremden Umgebung umsah, an: »Das ist Saric. Er wird dich aus der Stadt hinausbegleiten. Wie ist dein Name?«
»Thyr.« Den Kopf hielt er gesenkt. Er durfte diese beiden gottähnlichen Männer nicht ansehen, sonst würde etwas Schreckliches passieren, davon war er überzeugt.
»Du hast gestohlen? Warum?«
»Wir hungern daheim.«
»Wo bist du denn daheim?«
»In Caschu.«
»Helfen die Nachbarn euch nicht?«
»Die haben noch weniger als wir.«
»Aber ihr bestellt doch das Land, treibt Handel. Weshalb hungert ihr in Caschu?«
»Das gehört doch alles dem Gutsherrn Taymar, ihm gehört das ganze Dorf.«
»Und euch bleibt nichts?«
»Nur wenig.«
Jaryn und Saric wechselten einen betroffenen Blick. Auf Anweisung Jaryns drückte Saric dem Jungen fünf Goldringe in die Hand. »Damit könnt ihr euch etwas zu essen kaufen.«
Der Junge hatte in seinem Leben höchstens einmal einen Kupferring zu Gesicht bekommen. Er wurde leichenblass und ließ die Ringe zu Boden fallen. »Man wird mich für einen Dieb halten«, schluchzte er.
Jaryn musste lachen. »Du bist doch einer.«
»Aber nur Essen und Kleider«, stammelte Thyr, »kein Gold. Niemals, das ist für die vornehmen Leute.«
»Nun, diesmal ist es für dich«, sagte Saric und bückte sich tatsächlich, um die Ringe wieder aufzuheben. »Ab heute bist du auch vornehm.« Er zwinkerte ihm zu.
Thyr war zu verwirrt, um das Zwinkern als etwas Herzliches zu erkennen. Er konnte den Blick nicht von den Goldringen in seiner Hand wenden. Jaryn wurde die Sache unangenehm. Ohnehin waren schon etliche Leute auf sie aufmerksam geworden. »Nun bring ihn schon fort, Saric.«
Saric legte dem Jungen die Hand auf den Rücken und schob ihn leicht vorwärts. »Komm, wir gehen.«
Jaryn stand im Tor und sah ihnen nach. Er hatte einen armen Jungen vor einem grausamen Tod gerettet und ihn reichlich beschenkt. Weshalb fühlte er sich dann nicht erhoben von der guten Tat? Weshalb blieb ein bitteres Gefühl zurück? Irgendetwas war falsch, irgendetwas hatte er vergessen. Nachdenklich kehrte er in seine Räumlichkeiten zurück. Lange saß er an seinem Tisch und starrte die Sonnenscheibe an, die darüber an der Wand befestigt war. Taymar. Der Name ging ihm nicht aus dem Sinn. Taymar, der Gutsherr. Er war die verunreinigte Quelle, aus der das schmutzige Wasser stammte. Was nützte Thyr und seiner Familie ein Becher frisches Wasser, wenn die Quelle stank?
Ich habe ein Almosen gegeben, dachte Jaryn. Aber habe ich dadurch etwas verändert? Wie lange werden die fünf Goldringe reichen? Der Gutsherr scheint es zu sein, der die Caschuer aussaugt, er müsste abgesetzt oder doch mindestens ermahnt werden. Caschu! Schon mehrmals war er nun an diesem Dorf vorübergegangen, ohne etwas vom Leid der Bevölkerung zu ahnen. Ein Leid, das zudem auf Ungerechtigkeit beruhte, wenn Thyr die Wahrheit gesagt hatte. Und daran zweifelte Jaryn nicht. Aber was konnte er tun? Als Sonnenpriester stand er hoch über den anderen Sterblichen, und doch – das wurde ihm jetzt schmerzlich bewusst – besaß er keinerlei Macht, die Verhältnisse in Caschu zu ändern. Wieder war da die Mauer, die ihn von den Menschen, die ihn vom wirklichen Leben trennte. Er war nichts als eine bedeutungslose, in Goldstaub gewälzte Kreatur.
Diese
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