Lacunars Fluch, Teil 1: Der Auftrag (German Edition)
Garderobe zu kümmern und vor allem um Euren heiligen Zopf. So zerzaust solltet Ihr Euch nicht im Tempel bewegen.«
Jaryn fuhr sich unwillkürlich durch das lange Haar, das ihm bis in den Rücken reichte. »Ich wollte jetzt eigentlich Ruhe haben und mich nicht im Tempel – nun denn«, fügte er hinzu, als er das Zucken von Sarics Brauen bemerkte, »dann komm und flicht mir den Zopf. Es wird Zeit, dass ich mich wieder an ihn gewöhne.«
Während sich Saric wie gewöhnlich und mit zufriedener Miene an Jaryns Frisur zu schaffen machte, begann Jaryn, das eine oder andere Erlebnis seines Ausflugs zum Besten zu geben. An seiner gelösten Art zu sprechen, merkte Saric, dass die Reise Jaryn wieder ein wenig verändert hatte. Vielleicht war auch der Mondpriester Caelian daran schuld?
Etwas später stand vor Saric wieder Jaryn, der Achayane, gekleidet in einen Rock, der in allen Braun-, Gelb- und Rottönen schimmerte; er symbolisierte den Erntemonat. Saric verneigte sich tief vor ihm.
»Lass das, Saric!«, wies Jaryn ihn zurecht. »Zwischen uns soll sich nicht der Graben zwischen Herr und Diener auftun, du bist mein Vertrauter. Hatte ich das nicht schon gesagt?«
Saric neigte bejahend das Haupt. »Ihr sagtet es, Herr. Ich verneigte mich vor Eurer Schönheit.«
Jaryn errötete. »Es ist nur das Gewand«, wich er aus.
»Gewiss Herr, doch in wahrer Vollkommenheit schmückt dieser edle Rock nur eine edle Gestalt.«
»Die Schönheit hilft mir leider nicht weiter, Saric.«
»Aber sie kommt von den Göttern.«
»Ja, mag sein. Ich danke dir für deine Aufmerksamkeit. Und jetzt möchte ich allein sein.«
Schweigend zog Saric sich zurück, und Jaryn setzte sich an seinen Schreibtisch, an dem er so oft gesessen hatte, über so manches nachgegrübelt und Achay gerufen hatte. Sehr fern war ihm jetzt der Gott und der Raum ihm fremd, so als gehöre er nicht zu ihm. Seine Gedanken schweiften ab, wanderten zurück zu einer Waldlichtung mit vielen Zelten, rauen Männern, die miteinander lachten, tranken, rauften und sich wieder vertrugen. Eine barbarische Welt, und doch war sie ihm näher als dieser Raum, in dem sich kein Stäubchen fand. Wo ihm Sklaven zur Verfügung standen, die ihm jeden Wunsch erfüllten, schweigend und bereitwillig. Aber er merkte, dass er keine Wünsche hatte. Keine, die durch Sklavendienste befriedigt werden konnten. Alles, wonach sein Herz sich sehnte, befand sich außerhalb des Tempels. Die Stelle Achays hatte nun Rastafan eingenommen. Eine Schwermut drohte ihn niederzudrücken.
Unvermittelt erhob er sich. Er musste hinaus an die Luft, sonst würde er ersticken. Hinaus auf die belebten Straßen wollte er, das Leben spüren, das im Tempel zu einer festen Masse zu gerinnen schien. Ohne nachzudenken, verließ er mit eiligen Schritten den Tempel und überquerte den Königsplatz, auf dem es von Menschen, Sänften und Karren wimmelte. Doch jäh strebte der Haufen auseinander. Jaryn erinnerte es an einen Ameisenhaufen, in den man einen kleinen Stein geworfen hatte. Es bildeten sich Lücken, Korridore, kleine Gassen, flankiert von den Menschen, die ihm auswichen, und er schritt vorüber. Jedes Gesicht, das er anlächelte, senkte sich betreten, jedes Kind, dem er freundlich zunickte, versteckte sich hinter der Mutter, jeder Vornehme, den er grüßte, verbeugte sich tief und sah zu, dass er weiterkam. Zwischen Jaryn und den Menschen gab es eine unsichtbare Mauer, und sie existierte, seit er in den Sonnentempel eingetreten war. Er hatte sie nie bemerkt – oder doch? Bemerkt, aber für selbstverständlich gehalten, so wie jeden Morgen die Sonne aufging. Heute fühlte er zum ersten Mal, wie sehr sie ihn von den anderen trennte. Alle, die ihm begegneten, verehrten ihn, aber niemand sprach mit ihm, niemand liebte ihn. Er war kein Mensch, er war ein kostbarer Gegenstand.
Es ist dein Leben!, hämmerte es in seinem Schädel. Du hast kein anderes. Du wirst dich wieder daran gewöhnen. Es ist der erste Tag. Er schwamm durch den Menschenstrom wie durch Wasser, und wie Wellen teilte er sich vor ihm. Etwas spät erinnerte er sich daran, dass er seine Schönheit verhüllen musste. So lange war er barhäuptig gewesen. Sein loses Haar hatte im Wind geflattert, nur gebändigt von einem Räubertuch, und der Mann, den er liebte, hatte es gezaust und geraunt: »So gefällst du mir, jetzt bist du einer von uns.« Die Stimme – so nah, als ginge Rastafan neben ihm. Jaryn beschleunigte seinen Schritt, um der Prachtstraße zu
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