Lacunars Fluch, Teil 1: Der Auftrag (German Edition)
Gegenständen zu zelebrieren, kurz: jeglichen Aberglauben zu bedienen, der im Volk herrschte. Aber übergehen konnte sie niemand. Mit Geduld und Hinterlist hatten sie es verstanden, sich der herrschenden Schicht unentbehrlich zu machen. Selbst König Doron ließ seine Schreiben von ihnen aufsetzen, denn die heiligen Zeichen waren den Priestern vorbehalten.
Dadurch gewannen sie Einfluss im Lande, aber von der wahren Göttlichkeit und himmlischen Reinheit durchdrungen waren nur die Achayanen, die durch ihre Gebete und feierlichen Rituale die Menschen von Jawendor – selbst den König – beschirmten und beschützten vor Razoreth, dem Herrn des Abgrunds, dem Gebieter über die sieben Kreise des Bösen.
Oftmals, wenn Jaryn einen heiligen Gegenstand in die Hand nahm und ihn an die Lippen oder an die Stirn führte, spürte er, wie der Gott, einer Flamme gleich, durch seinen Körper bis in die unteren Regionen seines Leibes raste. Dort hielt er sich gern eine Weile auf, verströmte seine Hitze und ließ das Fleisch lustvoll anschwellen. Das war der Augenblick, in dem Achay nach Jaryns Hand verlangte. Er wollte von ihr umfasst, gestreichelt, gedrückt und gerieben werden. Dabei wurde sein Fordern immer stärker – und wer durfte ihm den Gehorsam verweigern?
Natürlich wusste Jaryn, dass gewöhnliche Menschen sich mithilfe dieses Körperteils paarten und dabei auch gewisse primitive Lustgefühle verspürten, jedoch lag so ein Verhalten außerhalb seines Denkvermögens. Wie hätte ein Sonnenpriester sich mit seinem heiligen Leib in unzüchtiger, schwitzender Umarmung suhlen können? Das Volk war dazu verpflichtet, sonst würden keine Kinder geboren. Selbst der König musste es tun. Und er war ein mächtiger und gefürchteter Mann. Aber eben doch nur ein Mann und kein Achayane.
Jaryn erschauerte und seufzte tief, als der Gott ihn verließ. Eine Weile blieb er sitzen und ließ die Wonneschauer abebben. Es war jedes Mal erhebend, wenn der Gott ihn besuchte, und er besuchte ihn täglich. Als er aufstehen wollte, um den Baderaum aufzusuchen, klopfte es an seine Tür. Am Klopfzeichen erkannte er, dass es Saric war, ein rangniederer Priester und Novize. Sklaven durften die oberen Gemächer nicht betreten, weil sie als unrein galten.
Jaryn schlug auf ein Becken, und Saric trat ein. Auch er war dem Monat entsprechend in ein rotes Gewand gekleidet, jedoch war es aus grobem Leinen. Um seinen Hals hing, wie bei allen Sonnenpriestern, ein Amulett mit dem Abbild Achays, von dessen Haupt Strahlen ausgingen. Saric näherte sich mit gesenktem Blick, so wie es allen rangniederen Priestern befohlen war, wenn sie Jaryn gegenübertraten, denn für ihn war Achay persönlich herabgestiegen. Bei seiner Weihe hatte Sagischvar die Worte gesprochen: »Vor deiner Schönheit sollen sich die Gestirne des Himmels verneigen.«
Tatsächlich war Jaryn ein außergewöhnlich schöner Mann, den wohl der Finger eines Gottes berührt haben mochte. Er war gut gewachsen, hatte ebenmäßige Züge, eine gerade Nase und einen sinnlich geschwungenen Mund. Sein langes, dunkelblondes Haar war durchzogen von weißblonden Strähnen, die darin wie silberne Bänder leuchteten. Er trug es über der Stirn gerade geschnitten und im Nacken zum heiligen Zopf gebunden. Am bemerkenswertesten jedoch waren seine Augen: schmal und funkelnd wie dunkelblaue Kristalle. Manche ertrugen seinen Blick nicht. Vor gleichrangigen Priestern bedeckte Jaryn sein Haupt mit der weiten Kapuze des Priesterrockes, damit seine Schönheit sie nicht verstörte und sie vor dem jungen Mann keine Unsicherheit befiel.
»Was gibt es, Saric?« Jaryn war ungehalten über die Störung, denn noch schien sich der Gott im Raum aufzuhalten, meinte er, seine Gegenwart zu spüren.
Saric überreichte ihm mit abgewandtem Blick eine Schriftrolle. Jaryn erkannte am Siegel, dass sie aus Drienmor kam, einer Stadt im Westen, die etwa zwei Tagesreisen entfernt, noch hinter den Rabenhügeln lag. Er wunderte sich darüber. Wer mochte ihm von dort eine Nachricht schicken? Kannte er jemanden in Drienmor? Ihm fiel niemand ein, umso neugieriger war er auf die Botschaft. Mit einer ungeduldigen Handbewegung wedelte er Saric hinaus. »Danke, du kannst gehen.«
Der Priester nickte stumm und entfernte sich geneigten Hauptes rückwärts zur Tür hinaus. Man drehte einem Leuchtenden niemals den Rücken zu. Jaryn hatte jedoch bereits den Blick von ihm abgewandt. Er schenkte den Novizen nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig.
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