Lady Chesterfields Versuchung
und obwohl man von ihr erwartete, dass sie den Ball nicht vor zwei Uhr morgens verließ, konnte sie ihren Vater bestimmt überzeugen, dass sie sich nicht wohl fühlte.
Missmutig verzog Lord Belgrave das Gesicht, als sie an Lieutenant Thorpe vorbeiwirbelten. „Ich hatte keine Ahnung, dass er heute Abend auch hier ist.“
Der Lieutenant starrte sie unverhohlen an. Sichtlich verstimmt umfasste er sein Limonadenglas und schien kurz davor, es dem Baron an den Kopf zu werfen.
„Dass er überhaupt eingeladen wurde!“, echauffierte sich Belgrave.
„Lieutenant Thorpe hat meinem Bruder vor einigen Jahren das Leben gerettet“, erwiderte Hannah ruhig. „Sie sind miteinander befreundet.“
Indes hatte sie keine Ahnung, woher Stephen einen Mann wie den Lieutenant kannte. Thorpe war ein einfacher Bürgerlicher und trotz seines militärischen Ranges nicht einmal der zweitgeborene Sohn eines Viscounts oder Earls, wie es normalerweise bei Offizieren der Fall zu sein pflegte. Und hätte ihr Bruder nicht nachdrücklich darauf bestanden, wäre Thorpe auch nicht eingeladen worden.
In dem Blick, mit dem er sie beim Tanzen beobachtete, lag keinerlei Demut oder Unsicherheit. Im Gegenteil, der Lieutenant wirkte eher so, als könne er nur mühsam seinen Zorn zügeln und sich davon abhalten, sie von Belgrave fortzureißen.
„Er versucht doch nur, Zugang zu den besseren Kreisen zu erhalten“, bemerkte Belgrave abfällig. „Aber ein Mann aus niederen Verhältnissen ist Gift für jede gute Gesellschaft.“
Sie tanzten abermals an Thorpe vorbei. Die angespannte Körperhaltung des Lieutenants erweckte den Eindruck, als hätte er statt eines Glases Limonade lieber eine Pistole griffbereit.
„Jedenfalls wünsche ich nicht, dass Sie sich in die Gesellschaft eines solchen Mannes begeben“, sagte der Baron und blickte nicht weniger finster drein als Thorpe.
Lord Belgraves besitzergreifender Ton missfiel Hannah über die Maßen, aber sie schwieg. Zwar hatte sie nicht die Absicht, sich auch nur in die Nähe des Lieutenants zu begeben, dennoch fragte sie sich, mit welchem Recht Belgrave sich erdreistete, ihr Vorschriften zu machen.
Erleichtert stellte sie fest, dass der Tanz langsam endete. Ihre Kopfschmerzen waren schlimmer geworden, und sie sehnte sich nach der Ruhe ihres Zimmers. Als die letzten Töne der Musik verklungen waren, bedankte sie sich für den Tanz, doch Lord Belgrave ließ ihre Hände nicht los.
„Lady Hannah, es wäre mir eine große Ehre, wenn Sie zustimmten, meine Ehefrau zu werden.“
Sie konnte nicht glauben, dass er sie fragte. Hier. Mitten im Ballsaal. „Sie müssen mit meinem Vater sprechen“, erwiderte sie und lächelte distanziert.
Nein. Nein. Tausend Mal Nein.
Der Baron verstärkte den Griff um ihre Finger, als sie versuchte, ihre Hände fortzuziehen. „Doch was ist mit Ihren Wünschen? Wenn Sie die Erlaubnis des Marquess nicht benötigen würden, wie würde Ihre Antwort lauten?“
Ich würde auf jeden Fall Nein sagen.
Hannah versuchte, unbeteiligt zu wirken. Ihr gefiel der Ausdruck in Belgraves Augen nicht. Er wirkte regelrecht verzweifelt, und sie fragte sich, ob der Baron tatsächlich so vermögend war, wie er vorgab zu sein. Sie zwang sich zu einem Lachen, bevor sie antwortete. „Sie schmeicheln mir, Mylord. Jede junge Dame würde sich glücklich schätzen, Sie ihren Ehemann nennen zu dürfen.“
Jede außer mir. Doch ein Wort ihres Vaters würde genügen, um diese Situation zu bereinigen. Obwohl der Marquess nach außen hin gern den Autokraten gab, war er seiner Tochter gegenüber nachsichtig. Vermutlich lag es daran, dass sie noch niemals gegen ihn aufbegehrt hatte. Sie war gehorsam und sittsam und somit sein ganzer Stolz.
Wenigstens hoffte sie das.
Endlich gelang es Hannah, ihre Hände freizubekommen. Als sie sich zum Gehen wandte, meinte sie die Blicke des Barons in ihrem Rücken zu spüren wie Pfeile. Sie wollte zu ihrem Vater und ihren Brüdern, die in der Nähe standen. Doch als sie sah, dass die drei Männer in ein ernstes Gespräch vertieft waren, nahm sie sich ein Glas Limonade und ging an ihnen vorbei auf die Terrasse hinaus. Im Halbdunkel vor der hohen Fenstertür blieb sie stehen. Zwar war es nicht schicklich für eine junge Dame, den Ballsaal unbegleitet zu verlassen, doch sie hoffte, dass die Nähe zu ihrem Vater und ihren Brüdern andere Männer davon abhielt, sie zu behelligen.
Die Gäste im Saal tanzten und unterhielten sich angeregt. Das Pochen in Hannahs Schläfen wurde
Weitere Kostenlose Bücher