Lady Chesterfields Versuchung
Vater brachte sie zu ihrem Zimmer und wünschte ihr eine gute Nacht, ehe er etwas ungehalten hinzufügte: „Übrigens war Lady Whitmore heute Nachmittag da und brachte eine Schachtel Ingwerplätzchen vorbei. Ich habe einen Dienstboten angewiesen, sie in dein Zimmer zu stellen. Sag bloß deiner Mutter nichts davon.“ Er schüttelte den Kopf. „Man sollte doch meinen, dass eine Frau in ihrem Zustand es besser weiß und nicht wie eine Küchenmagd schuftet. Es ist einfach lächerlich, dass sie darauf besteht, Plätzchen zu backen wie eine gewöhnliche Dienstbotin.“
Die meisten Frauen schonten sich vor ihrer Niederkunft, doch ihre Schwägerin Emily frönte seit ein paar Wochen einem regelrechten Backrausch. Stephen ließ seiner Gattin freie Hand, zu tun und zu lassen, wie es ihr beliebte.
Da Hannah verstand, worauf ihr Vater hinauswollte, ging sie rasch in ihr Zimmer und kehrte mit zwei Plätzchen zurück, die sie ihm reichte. Mit großem Genuss verspeiste er das Gebäck.
„Wenn ich Emily das nächste Mal sehe, erzähle ich ihr, wie gut sie dir geschmeckt haben.“
Der Marquess schnitt eine Grimasse. „Sie sollte sich nicht in der Küche aufhalten. Erst recht nicht, wenn ihr die Knöchel anschwellen, wie sie sagt. Wenn du mit ihr sprichst, richte ihr aus, dass sie die Füße hochlegen soll.“
„Das mache ich. Gute Nacht, Vater.“ Hannah schloss die Tür ihres Zimmers. Sie wusste, dass ihr Vater im Grunde die kleinen Streitereien mit Stephens Frau genoss, obwohl er es niemals zugeben würde.
Sie läutete nach ihrer Zofe und setzte sich an den Frisiertisch. Brauchte sie vielleicht doch ein paar Tropfen Laudanum? Der Schmerz pochte immer noch heftig hinter ihrer Stirn. Sie massierte ihre Schläfen, um ihn zu lindern. Es ging ihr gegen den Strich, dass sie diesem unberechenbaren Kopfschmerz machtlos ausgeliefert war.
Doch wenn sie genauer darüber nachdachte, gab es vieles in ihrem Leben, auf das sie keinen Einfluss hatte. Eigentlich sollte sie sich daran gewöhnt haben. Ihre Mutter traf sämtliche Entscheidungen bezüglich ihrer Garderobe und darüber, an welchen Bällen und Dinnerpartys sie teilzunehmen hatte. Außerdem entschied die Marchioness über ihren Speiseplan, wem sie die Aufwartung machte und sogar, wann sie sich abends zurückziehen durfte.
Hannah strich über die silberne Haarbürste. Wie sehnte sie den Tag herbei, an dem sie diese Entscheidungen selbst treffen konnte! Obwohl sie ahnte, dass ihre Mutter es nur gut mit ihr meinte und das Beste für ihre Tochter wünschte, kam Hannah ihr Elternhaus zunehmend wie ein Gefängnis vor.
Sie sah auf die Liste, die ihre Mutter ihr für den heutigen Tag geschrieben hatte. Seit sie neun war, erhielt sie jeden Abend eine solche Liste, auf der die Dinge standen, die Hannah nicht vergessen durfte.
1.Das weiße Seidenkleid und die Familiendiamanten tragen.
2.Verehrer immer erst von deinem Vater oder deinen Brüdern vorstellen lassen.
3.Keine Aufforderung zum Tanz ablehnen.
4.Meinungsverschiedenheiten mit einem Gentleman unbedingt vermeiden – eine wohlerzogene junge Dame ist umgänglich.
Hannah konnte sich schon beinahe Anweisung Nummer fünf vorstellen: einem fremden Mann niemals gestatten, dich zu berühren . Sie schloss die Augen, als ihr eine weitere Schmerzwelle durch den Kopf schoss.
Sie stützte die Stirn auf ihren Händen ab. Ein Gefühl von Ekel stieg in ihr hoch, als ihr Blick auf das butterfarbene Hauskleid fiel, das bereits für den morgigen Tag zurechtgelegt wurde. Sie hatte dieses Kleid noch nie leiden können und wäre froh gewesen, es endlich loszuwerden. Wenn sie es trug, fühlte sie sich wie eine Sechsjährige.
Doch nichts lag ihr ferner, als einen Streit mit ihrer Mutter vom Zaun zu brechen. Abwechselnd wählte die Marchioness weiße, rosafarbene und gelbe Kleider für ihre Tochter aus. Einmal hatte Hannah eine andere Farbe vorgeschlagen, doch ihre Mutter war nicht darauf eingegangen. Es würde sie nicht überraschen, wenn ihre Mutter sogar heimlich die Ausschnitte nachmessen würde. Nur um sicherzugehen, dass sie nicht zu viel nackte Haut enthüllte.
Ein Mal, ein einziges Mal, hätte Hannah gern ein dunkelrotes Kleid getragen. Oder ein violettes. Irgendetwas Leuchtendes, das ihre langweilige Garderobe aus dem Dahindämmern reißen würde. Aber eine wohlerzogene junge Dame trug solche auffälligen Farben nicht.
Hannah hob den Saum ihrer Ballrobe. Beim Anblick ihrer Unterröcke musste sie an den Mann denken, der eines Tages ihr
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