Lady meines Herzens
Aber keine Hochzeit in den besseren Kreisen war komplett ohne Miss Sophie Harlow. Letztes Jahr um diese Zeit war sie von ihrer eigenen, katastrophalen Hochzeit geflohen. Jetzt berichtete sie über die Hochzeiten anderer Leute.
Ihr Leben hatte einen entsetzlich abrupten Richtungswechsel erfahren. Eine Mischung aus Liebeskummer, Wahnsinn, Erniedrigung und dem Wunsch, ein neues Leben zu beginnen, hatte sie in diese riesige Stadt geführt, in der sie niemanden kannte außer ihrer besten Freundin Julianna.
Eine Woche nach ihrer Ankunft in London war ihr klar geworden, dass sie ein Einkommen benötigte. Sie verabscheute den Gedanken, von den kleinen Einkünften zu leben, die Julianna aus den Ländereien ihres verstorbenen Ehemannes bezog. Die Aussicht zu verhungern war ebenso wenig verlockend. Sophies Möglichkeiten waren begrenzt: Sie konnte einer Beschäftigung als Näherin, Dienerin, Gouvernante oder Mätresse nachgehen. Nichts von alledem übte einen besonderen Reiz auf sie aus.
Aus schierer Verzweiflung hatte Sophie das Undenkbare getan und sich für eine Männerarbeit beworben – als Sekretärin von Mr Derek Knightly, dem Verleger der in der ganzen Stadt höchst beliebten Wochenzeitung London Weekly. Es war ein ungeheuerliches Vorgehen, und die Aussichten auf den Job waren nicht besonders gut. Sophie ging das Risiko trotzdem ein.
Selbst jetzt, ein Jahr später, konnte sie einfach nicht glauben, dass sie das getan hatte. Wie alle Mädchen von gesellschaftlichem Stand war Sophie in der Gewissheit aufgewachsen, nur eine Aufgabe zu haben: Sie musste eine vorteilhafte Ehe schließen. Arbeiten … nun, das war einfach undenkbar! Aber verhungern war ebenso undenkbar.
Zu ihrer Überraschung hatte Mr Knightly ihr nach dem Vorstellungsgespräch ein Angebot gemacht. Sie sollte über das schreiben, was sie am meisten fürchtete: Hochzeiten. Wenngleich sie für ein Leben als Ehefrau und Mutter erzogen worden war, wurde sie nun Zeitungsschreiberin.
Den Job wolle kein Mann machen, hatte Mr Knightly seine Entscheidung begründet. Sophie wollte ihn auch nicht machen, doch ihre anderen Alternativen waren noch weniger verlockend: Näherin oder Dienerin, Gouvernante oder Mätresse.
So wurde sie die Miss Harlow der regelmäßig erscheinenden Kolumne »Miss Harlows Hochzeiten in besseren Kreisen«. Sophies Arbeit inspirierte Julianna dazu, ebenfalls mit dem Schreiben anzufangen. Sie hatte eine Klatschkolumne ins Leben gerufen: »Geheimnisse der Gesellschaft«, anonym verfasst von »einer Lady mit Klasse«. Zusammen mit Eliza Fielding und Annabelle Swift bildeten sie den Kreis der »Schreibenden Fräulein« – und nur wenige Wochen nach ihrem Debüt in der London Weekly waren sie berühmt.
Mr Knightly hatte schon so eine Ahnung gehabt, dass weibliche Autoren einen Skandal auslösen könnten, und Skandale ließen sich stets in klingende Münze umwandeln. Er behielt recht.
Alles lief ganz hervorragend, wenn man von dem kleinen Schönheitsfehler absah, dass Sophie eine Hochzeit nach der anderen über sich ergehen lassen musste …
Sophie saß am äußeren Ende einer Kirchenbank in der Nähe der Wand. Weit weg vom Mittelgang, wo die Braut entlangschreiten würde. Ein Sitzplatz, der ihr eine Fluchtmöglichkeit bot.
Neben ihr saß Julianna und registrierte heimlich alles, worüber man berichten könnte: Wer trug was, wer redete mit wem, wer war anwesend, wer fehlte.
Jeder sah glücklich aus. Zufrieden. Es war ein herrlicher Junimorgen, und zwei liebende Menschen wollten heute den heiligen Bund der Ehe eingehen und von nun an bis in alle Ewigkeit glücklich zusammenleben.
Sophie war flau im Magen. Sie würde sich wohl nie daran gewöhnen. Hochzeiten. Das waren die Nerven, schließlich war dies ihre dritte Zeremonie an einem Tag. Jeder wollte samstags vor der Mittagszeit heiraten, wenn man von ein paar Ausnahmen absah. Zum Glück war dies die letzte Hochzeit für heute. Trotzdem spürte sie schon wieder, wie diese entsetzlichen Gefühle in ihr aufstiegen.
Ihr Magen verkrampfte sich. Die Handflächen wurden feucht. Sie musste unwillkürlich an eine andere Hochzeit im Juni denken und an ihr Herz, das ganz langsam entzweibrach, während alle Hochzeitsgäste sie mitleidig und neugierig zugleich anstarrten. Atmen , befahl sie sich.
Einatmen. Sie wedelte sich mit der Einladung, ohne die man nicht an der Trauung teilnehmen durfte, frische Luft zu. Das war zwar ein Bruch der Etikette, aber im Moment absolut lebensnotwendig.
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