Ladylike
1
Ich hatte immer eine Nagelfeile im Auto liegen. Bei jedem Stau, vor jeder roten Ampel habe ich mir einen anderen Finger vorgeknöpft. Niemals habe ich Zeit vergeudet, immer war ich in Eile und bei allen meinen Tätigkeiten schneller als andere.
Heute ist es damit vorbei. Und wenn es mir schon schwerfällt, meine diversen Alterserscheinungen gelassen hinzunehmen, so trifft mich der Verlust meines Tempos am härtesten. Meine Tage sind zu kurz, um alles zu erledigen, was ich mir vorgenommen habe. Meine Lebenszeit reicht nicht mehr aus, um alle Bücher zu lesen, die in der Warteschleife liegen, um eine neue Sprache zu lernen oder um alle Leichen im Keller zu entsorgen. Und doch treibt mich so vieles um, selbst die zartesten Düfte können an bittere Kränkungen erinnern.
Wahrscheinlich sind die prächtig blühenden Fliederbüsche gerade wegen ihrer vergänglichen Pracht so beliebt; kaum freut sich die wintermüde Seele an den weißen, lila oder violetten Dolden, am süßlichen Geruch, an Vasen voll üppiger Zweige, da beginnt es schon zu rieseln. Erst sind es nur zarte blaßblaue Sterne, die auf die Gartenwege wehen, dann regnen sie massenweise herunter und kleben am Ende braun wie Teeblätter an unseren Schuhsohlen. Schließlich lassen nur noch dunkle Samenstände an den stets zu kurzen Frühling denken.
Bis zu jenem verhängnisvollen Abend vor 24 Jahren liebte ich blühenden Flieder und hielt unsere Ehe für stabil; ich schmiedete gerade Pläne für eine große Feier zu unserer Silberhochzeit.
Naturgemäß hatten Udo und ich uns im Laufe der Jahre verändert, aber wie hatten sich erst die Zeiten gewandelt! Die prüden Nachkriegsjahre, in denen wir uns kennengelernt hatten, sind heute so gut wie vergessen, viele junge Leute leben ohne Trauschein zusammen. Als wir uns 1963 Das Schweigen von Bergman ansahen, waren wir schockiert. Nach und nach dachten wir über viele Dinge anders als in früheren Jahren, trennten uns von Vorurteilen und besuchten im Urlaub sogar den Sylter Nacktbadestrand. Als die 68er revoltierten, fühlten wir uns schon zu alt, um uns noch für die umstürzlerischen Ideen der Studenten, und sei es bloß für die freie Liebe, begeistern zu können. Erst viel später erkannte ich, wie groß der Sexualneid in Udos Generation auf die später Geborenen war, wie sehr diese Männer darunter litten, daß sie in ihrer Jugend bereits zum Establishment gehört und mehr oder weniger stets mit derselben gepennt hatten.
Jener Sonntag im Mai, als ich den Fliederduft zum letzten Mal mit leichtem Herzen einatmete, hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Wir saßen abends auf der Terrasse, denn es war noch hell und warm.
»Eigentlich sollten wir wieder einmal eine Waldmeisterbowle ansetzen«, überlegte ich, als mir plötzlich bewußt wurde, daß ich seit einer Stunde die Alleinunterhalterin war. Mein Mann hatte die ganze Zeit ins Leere gestarrt. Das war allerdings nichts Besonderes, wenn er durch berufliche Probleme stark in Anspruch genommen wurde.
Unvermutet begann er jedoch zu sprechen, und mir dämmerte, daß ihn die Maibowle nicht im geringsten interessierte.
»Ich muß dir etwas sagen, Lore«, begann er.
»Der Flieder ist fast abgeblüht, wie schade«, unterbrach ich ihn, denn ich hatte die Gefahr durch den veränderten Klang seiner Stimme erkannt. Um den Lauf des Schicksals noch für ein paar Minuten anzuhalten, holte ich einen Handfeger aus der Küche und kehrte die abgefallenen Blüten von der Wachsdecke des Gartentischs.
Doch dann gab es kein Entrinnen mehr, ich mußte mir alles anhören. Udo forderte die Scheidung, weil er eine wesentlich jüngere Frau ehelichen wollte; sie war schwanger.
Nur nicht heulen, dachte ich. Alles wird wieder gut. Nur nicht provozieren und seinen Trotz hervorrufen. Vernünftig bleiben. Wir haben bis jetzt noch alle Krisen überstanden. Er wird bald einsehen, daß er mich nicht einfach umtauschen kann. Sachlich bleiben, jetzt auf keinen Fall mit Porzellan herumschmeißen. Vielleicht sollte unser Christian seinem Papa mal die Leviten lesen!
»Ein Kind ist heutzutage kein Heiratsgrund mehr«, versuchte ich den ersten zaghaften Einwand.
Er schaute auf. »Für dich vielleicht nicht«, sagte er, »aber sie stammt aus einer erzkatholischen Bauernfamilie, da ist ein uneheliches Kind nach wie vor eine Schande.«
In diesem Fall kam auch keine Abtreibung in Frage. Lange war ich still. Meine Wut auf die fromme Bauerntochter, die sich einen Familienvater als Geliebten
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