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Laessliche Todsuenden

Laessliche Todsuenden

Titel: Laessliche Todsuenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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ein schwacher Mensch. Nun versteht man doch, warum er nie etwas gesagt hat.«
    »Du hast Mitleid mit meinem Vater?«, fragte Cajou ungläubig.
    »Mit deinem Vater auch«, sagte Marie-Thérèse, »natürlich. Was wirst du damit tun?«
    »Es veröffentlichen«, sagte Cajou, »wenn es die Autorin erlaubt.«
    »Wer so mit Herzblut schreibt, will auch veröffentlichen«, gab Marie-Thérèse zurück, »aber warum willst du es veröffentlicht haben?«
    »Weil es die Wahrheit ist!«, rief Cajou, »verstehst du das noch immer nicht?«
    »Es wirft kein gutes Licht auf deinen Vater«, sagte Marie-Thérèse langsam, »aber wenn du es veröffentlichst, wirft es natürlich Licht auf dich.«
    Cajou und das Mädchen sahen einander noch einige Male. Es waren schreckliche Begegnungen, die alles, was gewesen war, zerstörten. Trotzdem ging Cajou immer wieder hin, als könne er es nicht glauben. Beim letzten Mal schien das Mädchen krank zu sein. Sein Haar war zerzauster denn je, es war ganz mager und auf seiner Haut waren rote schorfige Stellen. Cajou hatte Blumen mitgebracht, doch war das, wie er selbst erkannte, unpassend. Das Mädchen ließ sie einfach fallen, und dann ging alles von vorne los, Tränen, Anschuldigungen, wortgewaltige Feldzüge gegen Cajous Charakter, Toben gegen sich selbst, da es gutgläubig gewesen sei wie das dümmste Kind. Cajou saß nur da und hörte die Stimme des Mädchens wie von Ferne, aus einem Brunnenschacht. Er fühlte die klebrigen Fäden über seinen Körper wandern, die Tentakel in die Haut eindringen, ein dichtes Netz, das ihm keinen Spielraum ließ. Er stammelte immer dasselbe, »vertrau mir, hab Geduld, ein paar Monate noch«, aber er wusste, dass es nicht stimmte, dass es nie gestimmt hatte. Er hatte sich geirrt. Nicht in dem Mädchen, sondern in sich selbst. Er konnte sich nicht ändern, kein ganzes Leben wenden. Er war es, der sechs Menschen »ins Unglück gestürzt hatte«, das war seine eigene Formulierung. Marie-Thérèse und die Kinder, dazu das Mädchen, sechs Menschen, da rechnete er sich selbst noch gar nicht dazu. Zum Glücklichsein und -machen hatte er nicht das Zeug, warum, begriff er einfach nicht.
    Das Mädchen gestattete Cajou, die kleine Studie über seinen Vater zu veröffentlichen. Es bestand allerdings auf einem Pseudonym und wählte einen Männernamen, einen gewöhnlichen, einen Dutzendnamen. Danach verließ es seine Dachbodenwohnung und zog fort.
    In seinen Kreisen, bei den Taufen und Hochzeiten, stieß Cajou wegen des Dossiers auf die Empörung, die er erwartet hatte. Sie tarnte sich hinter Manieren und Umgangsformen, doch er konnte die Zeichen lesen. Seine Genugtuung darüber blieb stumpf. Stattdessen ärgerte er sich über einen seiner Cousins, der herumposaunte, dass man sich um Himmels willen von Cajou nicht provozieren lassen solle. »Was sind denn das für Enthüllungen«, fragte er Cajou giftig, und, als sei er darauf noch stolz: »Gegen meinen Vater war deiner doch nur ein Mitläufer.«
    Cajou lebte noch fünf Jahre. Die Firma wurde von einem Konzern geschluckt, und er wurde von Helmut Url abgelöst, der aber nun nicht mehr als ein besserer Abteilungsleiter war. Wahrscheinlich setzte Url deshalb lächerliche Gerüchte über ihn in die Welt, der kleine Spießer, dem selbst das Brutus-Kostüm viel zu groß war. Fasan mit Knoblauch!
    In den letzten Jahren traf er sich wieder manchmal mit Euler-Wadl zum Mittagessen und, halb verborgen hinter einer riesigen Palme, kommentierten sie ironisch die aktuellen Entwicklungen und deren Protagonisten.
    Von den gewissen Frauen trat ihm keine mehr in den Weg.
    Eines Tages, bei seinem morgendlichen Spaziergang durch die Stadt, blieb Cajou plötzlich stehen und fasste sich an den Kopf. Er lehnte sich an eine Hauswand und spürte erstaunt dem brennenden Schmerz hinterher. Während ihm die Beine wegknickten und er langsam mit dem Rücken an der Wand herunterrutschte, dachte er nicht an sein Gehirn, das er so oft und bedrohlich vor sich gesehen hatte. Nein, er rutscht wieder bloßfüßig, die Knie voran, in den Fensterkasten hinein, bedrängt und geschützt von seinen Geschwistern, draußen ist, bis auf ein paar schwarze Skelette von Obstbäumen, alles blendend weiß, und er streckt den Finger aus und malt ein Männchen auf das leicht beschlagene Glas.

Neid

DIE GANZE ZEIT WAR TICHY da an der Ecke gestanden, eine schwarze Vogelscheuche als Verkehrspolizist. Erst muss er allein gewesen sein in der prallen Sonne, recht eigenartig in seinem

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