Laessliche Todsuenden
von dir jagst du nach? Du nimmst doch nur Anteil an anderen, wenn sie sich entziehen, du willst sie besitzen, aber sobald du sie hast, verachtest du sie.«
»Ich verachte dich?«, fragte Cajou.
»Du missachtest mich, wenn dir das lieber ist«, parierte das Mädchen, unüberwindbar in seinem Zorn.
Cajou saß da und hörte gar nicht mehr richtig zu. Ihm genügte der verzweifelte Hass im Gesicht des Mädchens. Alles, was es sagte, hatte es bestimmt von ihm, für es war es ja leicht, ihn zu vernichten, er hatte ihm doch alles von sich gezeigt. Auf dem Tisch blieb das sogenannte Dossier über seinen Vater liegen, in einem ordentlichen blauen Einband aus Karton. Als er den Blick hob, sah er das Mädchen von sich weggehen, es wurde immer kleiner, nur der blaue Ordner blieb gleich groß, und er konnte sich schon denken, dass dieses Bild ihn noch länger begleiten würde.
Eine Woche lang unternahm er nichts. Genauso wenig, wie er das Dossier aufschlug, glaubte er sich und dem Mädchen diese Trennung, doch verschob er ihre Rücknahme auf später. Ein Stimmchen redete ihm ein, dass es nicht durchhalten würde, schon bald würde es bereuen und zurückkommen. Nach dieser Woche, die er weiterhin in Theos Gästezimmer verbrachte, fuhr er mit Marie-Thérèse und den Kindern ins Waldviertel, ins Schloss von Onkel Felix. Er nahm das Dossier und setzte sich in den Obstgarten. Es begann mit Fotoseiten, das Schloss heute, das Schloss damals, dann Aufnahmen der Kriegsgefangenenlager im Gebiet von Allentsteig. Dazwischen scheinbar unvermittelt eine Großaufnahme des Südturms mit seinen tiefen Fensterkästen. Marie-Thérèse ging vorbei und warf einen Blick darauf.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Die Wahrheit«, sagte Cajou.
»Die Wahrheit über uns?«, fragte sie spöttisch. Cajou seufzte. »Zumindest über meinen Vater«, sagte er.
»Wer hat das gemacht?«, fragte Marie-Thérèse.
»Eine Studentin«, sagte Cajou, »in meinem Auftrag.« Vielleicht hätte er etwas anderes sagen sollen, aber er wollte erst das Dossier lesen. Bevor er nicht wusste, was darin stand, konnte er Marie-Thérèse keine gewagten Antworten geben. Er blätterte um und begann zu lesen, und als er fertig war, begann er wieder von vorne. Er las den ganzen Nachmittag. Als es kühler wurde und er zum Essen gerufen wurde, schlug er es nur unwillig zu. Er setzte sich an den Tisch, sah schuldbewusst auf seine Kinder, sprang nach wenigen Minuten wieder auf und entschuldigte sich. Er stürzte in sein Zimmer, nahm Papier und versuchte, dem Mädchen zu schreiben. »Liebste«, schrieb er, aber dann wusste er nicht weiter. Am Ende schrieb er nur noch, »ich danke dir«, und schob das Blatt in ein Kuvert.
Mit dem Dossier hatte ihm das Mädchen den Beweis erbracht, dass es keine Geschichtslöcher gab und dass Unwissenheit etwas Aktives ist. Nicht zuletzt hielt es ihm damit auch seine eigene Angst und Faulheit vor, so jedenfalls las er es. Denn auch wenn es verschwindend wenig gab aus der betreffenden Zeit, war es am Ende doch für ein Urteil genug. Dabei vermied das Mädchen zu urteilen, vordergründig jedenfalls. Es interpretierte professionell die Akten, es beschrieb die Sachlage, dann verglich es mit anderen Fällen. In seiner glasklaren Sprache erzählte es von Gutsherren, die weit mehr Zwangsarbeiter angefordert hatten, als sie brauchten, die diese Arbeiter geschont und gut genährt hatten. All das war hier nicht der Fall. Hier waren zwei Männer bei Waldarbeiten ums Leben gekommen, Todesursache unbekannt. Das interessierte auch niemanden, es wurden einfach zwei neue angefordert. Hier wurde ausgebeutet und sich bereichert, wie es die meisten anderen taten, denn das Mädchen hatte auch negative Beispiele parat, aus der unmittelbaren Nachbarschaft. So viel, so wenig. Cajou ertappte sich dabei, wie er den verlogenen Satz denken wollte, den alle immer sagten, wenn es um solche Geschichten ging: »Es war eine schreckliche Zeit.«
Als Marie-Thérèse ins Zimmer kam, reichte er ihr wortlos die Mappe. Ihm verlangte nach einem Gottesurteil, wie es ja oft gerade die Narren sprechen. Was würde sie sagen, zu dieser Arbeit, geschrieben von jenem Mädchen, dem einzigen Menschen, um dessentwillen er sich zumindest gewünscht hatte, er könnte sie verlassen? Konnte sie zwischen den Zeilen lesen?
Marie-Thérèse setzte sich. Als sie nach einer Weile fertig war, sagte sie betroffen: »Eine Tragödie.«
»Was genau meinst du damit?«, fragte Cajou.
»Dein Vater«, seufzte sie, »so
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