Laessliche Todsuenden
gewesen ist. Aber nicht einmal Franz Gregor ist als Bürgerschreck zur Welt gekommen, obwohl er das seither glauben machen will.
Zum Essen nahm sich Haybach überhaupt nur Zeit, wenn Gregor seine Vorträge hielt. Doch versuchte er ihn wortlos zu unterbrechen, einzuhaken, zu widersprechen, indem er mit seinem Zeigefinger verneinte, fuchtelte und stach. Haybach dirigiert, so nannten wir es. Wir kannten das aus den Vorlesungen. Er sprach so schnell wie ein Maschinengewehr, aber trotzdem kam er seinen vorauseilenden Gedanken nicht hinterher, denn weil er wie ein guter Schachspieler jeden Zug ständig nach allen Seiten hin überprüfte und bei weitem nicht alle möglicherweise berechtigten Einwände auch aussprechen konnte, begleiteten ihn seine Hände als skeptisches, den Sprecher zum Teil widerlegendes Instrument.
Damals habe ich Franz Gregor und seine »doctrinae« geradeheraus gehasst. Heute kommt mir diese Regung kindisch vor. Ich wäre wohl gern ein bisschen mehr wie er gewesen, so grotesk gebildet und intellektuell unmäßig. Mit rhetorischem Furor konnte er die abseitigsten Thesen aufstellen und lachte ausgelassen, wenn sie ihm zerpflückt wurden. Er als einziger schien Haybach zu fordern, und wahrscheinlich verdankten wir es nur seinem Unterhaltungswert, dass wir uns überhaupt eines Stammtischs mit unserem Dozenten rühmen durften.
Manchmal waren wir bei Haybach zu Hause. Er besaß eine heruntergekommene Villa in Dornbach, wahrscheinlich geerbt, die bis unters Dach mit Büchern, Bildern, Teppichen und Musikinstrumenten vollgestopft war. Frau Haybach hielt sich abseits, nur manchmal hörte man von irgendwoher Chopin. Sie war eine furchterregend schöne Person von einem Typus, den es schon lange nicht mehr gibt. Bei Doderers dicken Damen sah ich undeutlich ihr Gesicht vor mir, obwohl ich mir das damals, schon wegen der sexuellen Implikationen, kaum eingestand. Heute, wo ich so viel mehr sowohl über Doderer wie über Haybachs Frau weiß, könnte ich es genauer sagen: eine Domina mit Madonnengesicht – davor hat sich schon der Zwanzigjährige, der ich war, instinktiv geduckt. Ilkas lila Schuhe aus Schlangenlederimitat wären an Frau Haybachs Füßen undenkbar gewesen. Sie war schon damals, als sie jünger war als Ilka heute, eine Dame.
Mit einer einzigen Ausnahme habe ich Percass Haybach überhaupt nur dort gesehen, als Kind, in Dornbach. Einmal, ganz am Anfang, pinkelte Percass Franz Gregor, an dem er innig hing, wie ein Welpe auf den Schoß. Während die ausgewaschene Hose trockengebügelt wurde, saß Gregor den Rest der Sitzung in Haybachs Schlafrock da, und ich erzielte ungewollt meinen größten Lacherfolg, als ich anmerkte, dass Außen und Innen nun endlich harmonierten. Mein Spott wurde als Kompliment missverstanden, denn es galt als das Höchste, aus der Reihe zu fallen. Ein anderes Mal stieß Percass seinen kleinen Bruder irgendwo herunter, und unsere Runde in Haybachs Bibliothek musste wegen der Fahrt ins Krankenhaus vor der Zeit aufgelöst werden. Während Tichy, damals noch der treue Diener seines Herrn, von irgendwoher den Wagen der Haybachs holte, half Ilka in den oberen Räumen Blut aufzuwischen, und wir anderen standen im zweistimmigen Kindergebrüll herum und wussten nicht, wann und wie man sich verabschieden sollte. Und ein drittes Mal wurden die beiden, wahrscheinlich in der Vorweihnachtszeit, von der Mutter wie Zirkustiere hereingeführt und sagten eine lange Ballade auf. Beide hatten rote Bäckchen, Percass vor Lampenfieber, Rument vor Scham. An viel mehr kann ich mich nicht erinnern.
Aber zu einem Begräbnis geht man ja nicht, weil der Verstorbene etwas davon hätte. Man geht entweder um seiner selbst willen, weil man den Anblick des Deckels auf den Topf für die eigene Seelenruhe braucht, oder man geht als Stütze der Hinterbliebenen. Und daher blieb, nachdem ich die große Todesanzeige in der »Presse« entdeckt hatte, eigentlich nur eine Frage offen, nämlich, ob ich Ilka anrufen sollte.
»Ich hab mich die ganze Zeit gefragt, ob ich dich anrufen soll«, keuchte Ilka, als wir, noch immer im höhnischen Sonnenschein, durch den Blinddarm der kleinen Gasse zurück ins ›Kore‹ rannten, »aber der blöde Stolz.« Sie krallte sich nun in meinen Sakkoärmel, denn ihr ominöser Bekannter unterhielt wohl inzwischen den ihm völlig unbekannten Haybach oder umgekehrt. Aber die Zusammenhänge gingen mir erst später auf. In der Situation, in der wir uns befanden, zeugte Ilkas Bemerkung
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