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Laessliche Todsuenden

Laessliche Todsuenden

Titel: Laessliche Todsuenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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Traueranzug, er muss das offene Grab früher, viel früher verlassen haben, um sich rechtzeitig an der Gartenmauer aufzustellen. Wahrscheinlich ist er gegangen, als die Mädels, begleitet von ihren Gitarren, zu jaulen begannen wie verwundete Tiere, Bob Dylan oder Leonard Cohen, ich weigere mich, mich genau zu erinnern. Das war der Moment, wo jeder Anwesende ganz tief in sich selbst hineinkroch, aus Trauer, Verzweiflung oder Scham. Vielleicht gehört das Beschämtsein zu Begräbnissen ja unbedingt dazu, weil es garantiert, dass wirklich jeder einmal innere Einkehr hält, auch nervöse Zyniker wie ich, die, um sich nicht die Blöße einer feuchten Schnauze zu geben, lieber die anderen anstieren, denn selten ist die Gelegenheit besser.
    Je jünger der Verstorbene, desto folternder die Feierlichkeit, wenn meine These stimmt. Bei Kindern, besonders bei gewaltsam zu Tode gekommenen, sind inzwischen Plüschtierhaufen en vogue (werden die Spielsachen eigentlich mitbeerdigt?), bei jungen Leuten singt man zumindest so enthemmt wie in den Kirchen von Harlem und fasst sich dabei an den Händen. Am Ende kriegen nur mehr die Alten würdige Abschiedsfeiern, denn bei ihnen war noch am ehesten damit zu rechnen, da entlädt sich kein irrwitziger Aktionismus in eine »total persönliche« Inszenierung, um die keiner gebeten hat.
    Wenn Tichy sich zum Zeitpunkt der Kojotengesänge fortgestohlen haben sollte, hätte nicht einmal ich es bemerkt, selbst wenn er direkt neben mir gestanden wäre. Ich war geradezu petrifiziert. Wie ein ertappter Schüler versuchte ich mich auf die Anzahl der Stiche an der Rahmennaht meiner Schuhe zu konzentrieren, als sich die Mädels mit den rotgeweinten Schweinsnäschen tatsächlich ans Grab setzten, auf die Bretterstufen, die in die aufgeworfene Erde gelegt worden waren, damit sich die Damen, von denen es auch einige gab, die schwarzen Lackpumps nicht schmutzig machten. Hingelungert, gefläzt wie auf die Rosshaar-Futons, die sie wahrscheinlich in ihren WGs haben, wir hatten ja noch gewöhnliche Matratzen und wahrscheinlich eine Menge mehr Sex. Hingehockt, die dünnen Jeansbeine in den Schneidersitz aufgeklappt, die Gitarrenkörper dazwischen genommen und geschluchzt, »in the wind«, da lobte ich mir plötzlich das metallische »Ave Maria«, das eine hutschpferdbunt geschminkte Mezzosopranistin bei der Beerdigung meiner Großmutter zum Besten gegeben hatte. Aber was soll’s. Wenn Tichy da gegangen ist, in diesem Moment einer Peinlichkeit, die so absolut war wie der Tod, dann könnte man es ja verstehen. Halt, das Gehen, die ziellose Flucht könnte man verstehen, die verstehe ich, um die Unverfrorenheit hätte ich ihn sogar beneidet. Ungeheuerlich aber bleibt der Zweck, der Plan, den er dabei hatte, bei so einem Ereignis.
    Das Künstlerschlösschen Kore liegt am Ende einer kleinen, schon überaus ländlichen Gasse. Ihr Kopfsteinpflaster führt schnurgerade auf seinen Eingang zu, und man käme nie auf die Idee, dass es danach noch weitergehen könnte. Das ›Kore‹ steht da als Schlussstein, der Höhepunkt, auf den die kleine Gasse zielt. Schon von weitem sieht man das schmiedeeiserne Tor, dahinter die anmutig bröckelnden griechischen Säulen und marmornen Engel, die Tontöpfe voller Oleander und Rosmarin. Ein Hort verspielter Romantik, melancholisch, aber nicht deprimierend, und daher ungemein konsensfähig. Doch jetzt weiß ich, und ich werde es bis in alle Ewigkeit nicht mehr vergessen, dass die Gasse noch weiter geht, dass es noch eine Hausnummer hinter dem ›Kore‹ gibt. Das, was wie der natürliche Vorplatz des ›Kore‹ wirkt, seiner Grandezza inmitten der niedrigen Vorstadthäuschen gemäß, ist in Wahrheit immer noch die kleine Gasse. Sie zweigt im rechten Winkel ab, führt an der halbhohen Ziegelmauer um das ›Kore‹ herum und hält dahinter noch eine Überraschung bereit.
    Da stand also der Tichy an der Ecke, sah so bekümmert drein wie immer, nickte und murmelte und machte eine sparsame Handbewegung, weg vom ›Kore‹-Eingang, die Gartenmauer entlang. So war es bei mir, und so muss es bei allen gewesen sein. Selten ist man so wehrlos und gutgläubig, so dankbar für liebevolle Anleitung wie in einem Augenblick, wo man seine Gesichtszüge gerade erst notdürftig geordnet hat, zehn Minuten nach dem Begräbnis eines fröhlichen, begabten Fünfundzwanzigjährigen.
    Ich ging einfach nur hinter den anderen her, ich schwöre es, so wie wir alle immer hinter anderen herzugehen glauben und uns in

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