Laessliche Todsuenden
der Onkel, der Bruder des Vaters, das hohe Tier in der SS. Irgendwie habe sich der Vater doch dazu verhalten müssen, aber nichts, kein Brief, kein Bericht, keine Erinnerung, nur Schweigen. Ein einziges dürres Faktum: Verwalter von Land und Forst eben jenes Onkels, den ganzen Krieg über. Habe man da sauber bleiben können? Und gab es nicht französische Kriegsgefangenenlager, im Waldviertel?
Er hörte sich übertreiben, als er von einem Familiengeheimnis sprach, aber was hätte er tun sollen? Er konnte dem Mädchen nicht verdenken, dass es ungeduldig, vielleicht sogar misstrauisch wurde, nicht nach all seinen Schwüren, denen bisher nichts gefolgt war. Er kam zum Frühstück, und er kam zum Vögeln, er liebte das Mädchen und wollte irgendeine Art Leben mit ihm, darin war er sich sicher. Aber den letzten Beweis blieb er schuldig.
Er konnte es ihm nicht verdenken, aber genauso wenig konnte er Unruhe, Streit, Vorwürfe zulassen. Er musste doch sein Leben ändern, und ohne das Mädchen war das nicht zu schaffen. Er wusste ja nicht, ob es überhaupt zu schaffen war. Er brauchte es. Es durfte nicht abfallen von ihm. Wenn etwas verdarb und kaputt ging, war immer er der Schuldige gewesen. So musste es bleiben, daran war er gewöhnt. Er musste die Fäden in der Hand behalten. Daher brauchte er eine Aufgabe für das Mädchen, ein Rätsel, etwas, was es für ihn tun konnte und es ablenkte.
Als Cajou sah, wie glatt sein Plan aufging, wie erregt und betroffen das Mädchen schon nach seinen ersten Worten war, hätte er sich am liebsten ein Messer in die Handfläche gebohrt. Da saß dieses manchmal kratzbürstige, manchmal störrische kleine Ding, das nach allgemeinem Maßstab nicht einmal hübsch zu nennen war, da saß es im respektgebietenden neuen Kleid, und sein scharfer Verstand ließ sich wie nichts von den Finten eines Hochstaplers schachmatt setzen. Ja, er war ein Hochstapler, das warf sich Cajou vor. Immer hatte ihm die Leidenschaft gefehlt, etwas absolut zu wollen. Immer verdächtigte er sich, sie nur vorzuspielen. Am ehesten hatte er echte Leidenschaft noch in der Firma gespürt, am Anfang, als es so aussah, als ob er einen blitzschnellen Abgang nehmen würde, »der Freigeist als Ökonom«. Die Firma selbst war ihm dabei egal gewesen, auch in jeder anderen Firma hätte er sich zu bestehen bemüht. Aber alles andere? Sein ganzes Leben? Zufälle, eitle Sturheiten, Trägheiten oder, im Gegenteil, Kämpfe um des Kämpfens willen, wie bei Marie-Thérèse, die, jetzt sah er es deutlich, die falsche Frau gewesen war, himmelschreiend falsch, in all ihrer Liebe. Er war nie ganz bei sich, ein Teil war immer woanders, auf einem ironischen Beobachterposten. Er fühlte sich als Lügner. Irgendetwas war mit ihm anders als mit anderen Menschen. Andere hatten einen fassbaren Kern, und wenn es ein langweiliger war wie der kreuzbrave Spießerkern von Url. Wenn er über sich nachdachte, sah er nur das offene Gehirn, ohne Schale, wie es zuckte. »Das Gehirn zuckt nicht«, hatte das Mädchen gesagt. Nun hinterging er auch es.
Einen Hieb versetzte es ihm noch, der ihm zeigte, dass er seine Nazi-Karte keine Sekunde zu früh ausgespielt hatte. »Vielleicht hast du deshalb eine Antisemitin geheiratet«, sagte es leichthin, »ich meine, sie passt zur Familie.« Cajou antwortete nicht, obwohl sich etwas in ihm verkrampfte. Hier musste man großzügig sein, die erste Attacke auf Marie-Thérèse musste man unbedingt überhören.
Cajou gewann ein halbes Jahr. Bald schien das Mädchen die Aufgabe mehr zu lieben als ihn, denn es war mit den Recherchen in Archiven und Bibliotheken so beschäftigt, dass es wenig Zeit hatte. An den Wochenenden, wenn Cajou auf einer Hochzeit, einer Taufe oder einem runden Geburtstag war, fuhr es mit einem geborgten Auto ins Waldviertel, besuchte die Dorfmuseen und fotografierte Onkel Felix’ Schloss von der Mauer aus. Er zeigte dem Mädchen auf dem Bild den tiefen Fensterkasten im südlichen Turm, der nur als Punkt erkennbar war, und es versprach, beim nächsten Mal das Teleobjektiv mitzunehmen.
Weil das Mädchen so abgelenkt war, drückte ihn seine Schuld weniger nieder. Er fing sich wieder und zwang sich, da weiterzumachen, wo er noch gar nicht richtig begonnen hatte. Er eröffnete Marie-Thérèse, dass er unter der Woche, von nun an und wann immer möglich, in Theos Stadtwohnung übernachten werde. »Und was sagen wir den Kindern?«, fragte sie, blass und gefasst, und Cajou bemerkte ärgerlich, dass ihn dieses
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